Thomas Sautner: Zwischen Realität und Illusion
„Das Mädchen an der Grenze“ – der neue Roman von Thomas Sautner. Foto: Ines Wagner
Buchempfehlung der Redaktion
Thomas Sautner, Schriftsteller und Essayist aus dem Niederösterreichischen Waldviertel, ist ein neuer, großartiger Roman gelungen. „Das Mädchen an der Grenze“ erzählt zunächst federleicht, doch alsbald mit gefährlicher Sogwirkung vom Verschwimmen der Grenze zwischen Realität und Illusion.
Das Mädchen Malina fühlt das Leben anderer, als wäre es ihres. In ihren Kopf und in ihr Herz purzeln Dinge, die da nicht hingehören. Sie sieht und spürt, was den anderen verborgen bleibt. Sie kann die Dinge vor ihren Augen zerwackeln lassen, bis sie zu hellem Licht werden.
Welt zerfällt in Einzelteile
An ihrem Vorhang dreht sich an einer Schnur eine Rabenfeder im Gegenlicht, im sanften Wind. Ist Malina verrückt? Die anderen Kinder nennen sie „Narrenkastl-Malina“ und ihre Welt zerfällt in Einzelteile, wie auch der neue Roman Thomas Sautners, in dem nichts ist, wie es scheint.
Mit „Das Mädchen an der Grenze“ verdichtet Sautner, was sich in seinen letzten Büchern immer wieder andeutete: Was ist normal, was ist verrückt? Traum und Wirklichkeit, Realität und Fiktion verschwimmen. Man liest Sätze wie „Die Zukunft kommt nicht, die Vergangenheit vergeht nicht.“ Alles ist immer und zugleich da: „Das was ist, ist gleich dem, was nicht ist.“ In seinem schmalen Band hat er zwischen den Zeilen einen großen Roman verdichtet, der seine Leser mit einem unwiderstehlichen Sog hinein in die Seiten zieht.
Mystisches Waldviertel in Niederösterreich- Heimat von Thomas Sautner. Foto: Ines Wagner
Man schreibt das Jahr 1989, das Jahr in dem sich das Schicksal Europas und der Welt wendet. Auch das Schicksal im kleinen Zollhaus an der Grenzstation der österreichisch-tschechischen Grenze im Waldviertel. Während die Grenzen des Eisernen Vorhangs kippen, kippt auch in Malina eine Welt. Die Realität bietet ihr keinen Rahmen mehr, während die Menschen in ihrem Umfeld mit Hilflosigkeit und Unverständnis reagieren.
Was ist Traum, was Illusion? Lebt der Mensch, oder wird er gelebt? Wohin leitet der Verstand? Was vermag die Liebe? Mit zärtlichen Linien zeichnet Saunter das fragile Gefüge in Malinas Kosmos: den ruppig-liebevollen Vater, die überforderte Mutter, die Grenze, die vor allem im System und den Köpfen besteht, Menschen – oder sind es Wesen – aus anderen Welten, die heilende Kraft von Büchern.
Autor Thomas Sautner. Foto: Paul Feuersänger
Thomas Sautners Romane machen süchtig. Man greift nach vertrauten Indizien – einer Rabenfeder hier, einer uralten Wissenden dort – um ins Leere zu greifen. Mythen, Märchen, Gedichte, philosophische Fragen mäandern zwischen den Seiten. Und wenn alles ganz anders wäre? Der Mensch nicht existierte? Vielleicht muss er sich gar nicht zwischen Apollonium und Dyonisium entscheiden?
Sprachliche und bildliche Intensität
Thomas Sautner spielt mit den Ebenen und Wirklichkeiten, er wechselt die Perspektiven und zieht den Leser immer tiefer hinein. Mit klarer Sprache bringt er die Dinge fast schmerzlich auf den Punkt, um auch diesen Punkt alsbald zu zerwackeln, wie die Dinge vor Malinas Augen.
Wer den neuen Roman des Niederösterreichers mit Spannung erwartet hat, darf sich auf ein komplexes Buch voll sprachlicher und bildlicher Intensität freuen. Man möchte es nicht aus der Hand legen und nachdem man es ausgelesen hat, gleich noch einmal von vorn beginnen.
Buchcover. Foto: Picus Verlag
KulturVision e.V. fühlt sich mit Thomas Sautner und dem Waldviertel eng verbunden, weil wir dort auf einem idyllischen Dreiseithof in der Nähe des Autors regelmäßig Seminare anbieten und Thementage der Kulturbrücke Fratres mitgestalten.
Lesen Sie hier auch unsere Rezension von Thomas Sautners zuvor erschienenen Kinderbuch „Rabenduft“.