Kontemplative Wahrnehmung
Amadeus Wiesensee. Foto: Sammy Hart
Dialogreihe weiterdenken in Tegernsee
„The Rest is Silence? Was uns die Musik des 20. Jahrhunderts zu sagen hat“ hieß die gestrige zweite Veranstaltung in der Dialogreihe „weiterdenken“. Der Jesuit Prof. Dr. Michael Bordt sprach mit Amadeus Wiesensee, der moderne Musik interpretierte.
Der junge Pianist sei das Bindeglied zwischen der Hochschule für Philosophie in München und dem Gymnasium Tegernsee, erklärte der Präsident der Hochschule Prof. Dr. Dr. Johannes Wallacher. Hier habe er das Abitur gemacht, seine pianistische Laufbahn begonnen und jetzt studiere er neben Musik Philosophie. Die Veranstaltung sei zum heutigen Tag der Philosophie der Unesco offizieller Programmpunkt Deutschlands. Die Reihe „weiterdenken“ hat die Hochschule gemeinsam mit der Kunst- und Kulturverein Rottach-Egern ins Leben gerufen.
Man müsse Musik nicht beobachten, sondern erleben, sagte Michael Bordt. Auch die Komponisten des 20. Jahrhunderts wollten Zuhörer dazu bringen, sich auf das Gehörte einzulassen, nach innen und nach außen zu lauschen. Ein Kernstück dazu ist das berühmte „4’33““ von John Cage. Amadeus Wiesensee würfelte allerdings nur 1’26“, so dass die Stille, die Cage zum Thema macht, nur kurz anhielt. Was will der Komponist mit diesem provozierenden „Musikstück“? Er will, dass wir alles in der Umgebung als Musik empfinden können, erklärte Bordt.
Psychische Distanz
Oft wollten Menschen Musik nur zur Entspannung hören, aber nach Kant werde man damit der Musik nicht gerecht, Musik sei dazu da, etwas zu erleben. Und dazu benötige es einer psychischen Distanz, um den ästhetischen Wert zu erkennen, also nicht sich in eigenen Emotionen verlieren, sondern hellwach wahrnehmen, was in uns passiert. „Kontemplative Wahnehmung“ nannte Bordt diesen Prozess.
Amadeus Wiesensse spielte Variationen für Klavier von Anton Webern, ein Stück voller Expressivität, kurz, knapp und präzise. Im Gespräch sagte er: „Die Herausforderung besteht darin, dass es kein tonales Zentrum gibt, es ist orientierungslos.“ So habe er immer wieder dem Klang der Töne gelauscht, um die „Furie des Verschwindens“, wie Hegel sagt, nachzuspüren, denn Webern gelinge es, mit knappsten Mitteln Unsagbares zu sagen. Insbesondere die Pausen, die Stille öffneten die Fenster.
Keine Assoziationen
Die Preludes von Claude Debussy seien ohne Titel angekündigt, sagte Bordt, um keine Assoziationen zu wecken. Es gehe darum, dass sich der Hörer nicht mit einer Stimmung identifiziere, sondern vielmehr erlebe, wie der Komponist die Gefühle einer imaginären dritten Person kreiere.
Danach spielte Amadeus Wiesensee Miniaturen von Kit Armstrong und hier verfällt der Zuhörrer automatisch dem Wunsch, das Lied des Titels „Volare“ zu erkennen, aber das Thema taucht nur sehr kurz und angedeutet auf. Ebenso bei „La Valse“ von Maurice Ravel. Die Erwartung wird getäuscht, keine Walzerseligkeit, sondern Totentanz, Vorhersehen des Krieges, ein sehr hintergründiges Stück, hervorragend interpretiert.
Um das Unerreichbare zirkulieren
Und auch bei „Eurydike“ von Wilfried Hiller will der Zuhörer zwischen den Dissonanzen die melodieartigen Sequenzen genießen, wird aber sehr schnell wieder zurückgeholt. Ob es gelungen sei, bei der Musik zu bleiben, fragte Bordt das Publikum. Oder ob man, um mit Heraklit zu sprechen, anwesend abwesend gewesen sei. Da Musik emotional sei, hänge der Zuhörer doch immer wieder eigenen Assoziationen nach.
Zum Abschluss kehrte Amadeus Wiesensee zum Anfang und Cages Stille zurück. Er spielte die Klaviersonate Nr. 9 von Alexander Skrjabin und erklärte: „Sie beginnt und endet im Nichts und dazwischen ist das Begehren, sie zirkuliert um das Unerreichbare.“ Skrjabin sei sehr ambitioniert gewesen und habe die Menschheit über die Kunst auf einen höheren Bewusstseinszustand bringen wollen. „Wenn wir heute beim Publikum eine höhere Bewusstseinsebene erreicht haben, sind wir sehr glücklich“, beschloss Michael Bordt den Dialog. Und Amadeus Wiesensee beschloss den Abend mit seinem außergewöhnlichen Spiel.
Zum Weiterlesen: Porträt Amadeus Wiesensee in der 22. Ausgabe der KulturBegegnungen