Hommage an die kleine Buchhandlung
Ein Buchhandlungsroman, der auf eine zauberhafte Lesereise mitnimmt. Foto: pixabay
Lesung in Holzkirchen – Neuerscheinung im Buchhandel
Eine Liebeserklärung hat Thomas Montasser geschrieben, über Ringelnatz & Co, einen alten Samowar, die Leseratte Grisaille, die schlau aus ihren Äuglein blinzelt, Valerie, für die ein ganz besonderes Jahr beginnt, und jede Menge kluge Bücher.
Am 18.11.2014 fand die Lesung des Autors in der Bücherecke Holzkirchen statt, Tee aus dem Samowar inklusive. Und die Zuhörer tauchten ein in die Atmosphäre des Buches und des Ortes zugleich.
„Ein ganz besonderes Jahr“ ist der Titel des Buches von Thomas Montasser aus München, an dessen Anfang eine alte Dame spurlos verschwindet, Tante Charlotte. Sie verschwindet zwar spurlos, hinterlässt aber eine Notiz: „Meine Nichte Valerie soll sich um alles kümmern.“ Und Valerie, in der Tasche ihren frischgebackenen Bachelor für Betriebswirtschaft, macht sich schwungvoll ans Werk, das heisst, an den von ihrer Tante hinterlassenen Buchladen. Die Frühlings- und Sommermonate will sie nutzen, den Laden aufzulösen, derweil zwei Dutzend Bewerbungen an Topfirmen im dynamischen Herzen der Wirtschaft unterwegs sind, dorthin, wo die Zukunft erfunden wird. Statt dessen landet sie im Altpapier. Und im Sog einer Geschichte, im Banne der Bücher, im Strudel der Ereignisse, die zwar ereignislos scheinen, aber ihr Leben grundlegend verändern werden.
„Ich bin eine Buchhändlerin.“
Während sie versucht, Überblick im Chaos der alten Dame zu gewinnen, liest sie hier und da ein Buch, vergeht die Zeit unmerklich, während sie im verschlissenen Lesesessel sitzt und Tee im postsowjetischen Samowar zubereitet. Das vermeintliche Chaos hat natürlich durchaus System, ein System, wie es Valerie in ihren betriebswirtschaftlichen Vorlesungen nicht mehr kennen gelernt hat: Karteikarten. Auf denen hat Tante Charlotte nicht nur notiert, wie viele Exemplare sie verkauft hat, sondern auch in gestochener Handschrift Notizen gemacht. Zum Beispiel Italo Calvino: „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“: „ein bisschen frivol, etwas verstiegen, aber wunderbar ironisch – für alle, die das Leben nicht so ernst nehmen (sollten).“
Thomas Montasser ist etwas Wunderbares gelungen: Mit den Bemerkungen und Verkaufsargumenten Tante Charlottes lenkt er nicht nur Valeries Neugier auf die Bücher, sondern vor allem auch die seiner Leser, denn das Buch zu lesen macht Lust aufs Lesen. Und sogleich möchte man diesen Calvino verschlingen, Orhan Pamuk, Antonia S. Byatt und Jonathan Safran Foer, und zwar in genau der englischen Ausgabe, die Timmi bei Valerie erwirbt.
Buchhandlung wird Begegnungsort
Nach und nach finden sich auch Kunden in der beinahe in Dornröschenschlaf versunkenen Buchhandlung „Ringelnatz & Co.“ ein, wie der zehnjährige Junge, der Bücher von seinem Taschengeld kauft, weil sie besonders sind. Weil sie zwei Lesebändchen haben, statt nur eines, oder Löcher in den Seiten, durch die man hindurchschauen kann.
Valerie schließt Freundschaft mit der Familie des türkischen Gemüsehändlers in der Nachbarschaft, mit einem belesenen Bauarbeiter aus Persien, findet eine Freundin in einer streunenden Ratte, in Ermangelung einer streunenden Katze. Und entfernt sich dabei unversehens mehr und mehr von ihrem alten Leben.
Die Begriffe Prozessoptimierung, Erlösmaximierung, Profilschärfung und Zielgruppenanalyse weichen allmählich den Gedichten von Ringelnatz & Co. und die Beziehung Valeries zu ihrem zynischen Freund Sven, der nichts besseres vorzuschlagen weiß, als den Laden zu fachmännisch zu eliminieren, wird auch bald zu sperrig.
Und da ist auch noch der geheimnisvolle Fremde, der ein geheimnisvolles Buch kauft und sagt: „Ich könnte mein Leben hier verbringen.“ Und der berühmte Schauspieler Noel aus Wien, mit dem Tante Charlotte… ja, was? Und überhaupt… Tante Charlotte, ist sie denn nun tot oder lebendig?
Mehr als die Summe der Buchstaben
Thomas Montasser ist nicht nur eine wunderbar warmherzige Hommage an die kleine Buchhandlung geglückt, an das Lesen echter Bücher, die einen Geruch ausströmen, in denen eine Seele atmet, deren Einbände Spuren tragen, an Geschichten, die einen Sog auslösen. Es ist auch ein Buch über Veränderungen, Überraschungen. Es sagt: „Trau dich, geh los, nimm an, lass zu, lass fließen, und hör nicht auf zu staunen.“ Und letztendlich ist es ein Buch über die heilsame Kraft der Bücher, die Tröster sein können, Licht im Dunkel, Führer in der Finsternis, Gefährte in der Einsamkeit, Seelentröster und Kraftspender.
Zauberhafter Buchhandlungsroman
Unversehens ist ein Jahr vergangen und das kleine Büchlein ist zu Ende gelesen, wehmütig schlägt man es zu, lässt die Hand noch einmal über den Einband gleiten, zupft versonnen am Lesebändchen. Und ja, kocht sich einen Tee. Einen türkischen, der noch vom letzten Urlaub im Winkel des Küchenschrankes steht. Setzt sich. Und nimmt ein neues Buch zur Hand. Der Lesevirus, den Thomas Montasser gepflanzt hat, wirkt. Und morgen gleich wird man in die kleine Buchhandlung um die Ecke gehen und ein wenig in den Regalen stöbern.