Merkwürdig, es gibt keine Nazis mehr
Kirchenhistoriker Dr. Roland Götz. Foto: KN
Vortrag in Holzkirchen
In einem ebenso informativen wie unterhaltsamen Vortrag beleuchtete gestern Abend Roland Götz Ende und Neubeginn im Miesbacher Raum nach 1945. Quelle der Arbeit waren 530 Berichte hiesiger Pfarrer, in die sehr spezifische Beobachtungen einflossen.
Der promovierte Kirchenhistoriker hatte zusammen mit Veronika Diem die Berichte von Pfarrern aus dem Erzbistum Freising zu einem Buch zusammengestellt. Dabei, so erzählte er auf Einladung des Ökumenischen Gesprächskreises, sei dem Landkreis Miesbach eine besondere Rolle zugefallen. Hier nämlich habe es in den letzten Kriegstagen Ende April, Anfang Mai eine „wilde Mischung der zurückflutenden Wehrmacht, von SS-Einheiten, Opfern des Naziregimes, wie KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Evakuierten“ gegeben. Da die US-Armee von Nordwest her kommend Bayern befreite, war das Voralpenland ein Sammelbecken der unterschiedlichsten Menschen, wobei es zu dramatischen Situationen kam
Kriegs- und Einmarschberichte
Michael Kardinal von Faulhaber, der von der US-Militärregierung nach der Befreiung als vertrauenswürdig eingestuft wurde, forderte von den Pfarrern die sogenannten „Kriegs- und Einmarschberichte“ an, wobei insbesonder die Ereignisse bei Kriegsende, das Verhalten der US-Truppen und das Einhalten der Gottesdienstordnung beleuchtet werden sollte. Der Vorteil dieser Berichte, so führte der Historiker aus, liege gegenüber heutigen Zeitzeugenberichten darin, dass sie zeitlich dicht am Geschehen liegen. Bekanntlich neige unser Gehirn dazu, Ereignisse der Vergangenheit ungewollt zu verändern. Dennoch, so betonte er, seien es perspektivisch gefärbte Berichte. „Es muss nicht exakt so gewesen sein.“
Plünderungen durch eigene Bevölkerung
Den Schwerpunkt seiner Ausführungen legte Götz auf die Marktgemeinde Holzkirchen. Pfarrer Joseph Imminger berichtete, dass am 1. Mai „Angstmeier“ die weiße Fahne am Kirchturm gehisst hatten, woraufhin die SS den Pfarrer erschießen wollte, ein Dilemma, wie der Historiker betonte, zu früh gehisst, bedeutet Tod durch SS, zu spät gehisst, Tod durch die US-Armee. Am Teufelsgraben leistete die SS noch bis zuletzt erbitterten Widerstand bis der Bürgermeister zur Kapitulation aufrief. Nach dem Einmarsch habe es Plünderungen „vor allem durch die eigene Bevölkerung“ gegeben.
Auch Belästigung von Frauen durch die US-Soldaten spricht der Pfarrer an, redet aber gleichzeitig von „leichtsinnigem Weibervolk“. Dieses Thema wird auch von anderen Pfarrern beleuchtet und in einer großen wissenschaftlichen Studie belegt. Mit Munition spielende Kinder seien tödlich verletzt worden und russische Kriegsgefangene seien nach dem Genuss von Methylakohol erblindet und auch verstorben. Die Aussage eines plündernden US-Soldaten in Otterfing ist bemerkenswert, der laut Bericht sagte, die Deutschen hätten sich wegen des rigorosen Wirkens der SS jede Rücksichtnahme verspielt.
Gratis für SS und KZ-Häftlinge gekocht
Das grauenvolle Elend der Dachauer KZ-Häftlinge auf ihrem Todesmarsch ist Thema des Waakirchner Pfarrers, der berichtet, dass 15 Menschen beim Durchmarsch starben. Auch der Bad Wiesseer Geistliche schreibt, dass die KZ-Häftlinge in den Ort kamen. Dem beherzten Wesen der Pächterin des Gasthofes zur Post sei es zu verdanken, dass sie überlebten. Sie habe Kost für die SS-Begleitmannschaft nur unter der Bedingung zur Verfügung gestellt, dass auch alle Häftlinge versorgt werden. 14 Tage lang habe sie gratis gekocht.
Zwei Mitglieder der „Freiheitsaktion Bayern“ indes wurden angezeigt und wenige Tage vor Kriegsende in München erschossen, ebenso zwei Parlamentäre, die den Amerikanern entgegengingen. In Gmund sprengte die SS noch alle drei Brücken, ebenso in Weyarn die Autobahnbrücke. Von Tegernsee berichtet der Pfarrer, dass die Artillerie noch schoss, dann aber eine drohende Bombardierung nicht stattfand. Die SS habe sich zurückgezogen und die Bevölkerung war in die Berge geflüchtet.
Überlegt die Weichen gestellt
Von einer harten Besetzung berichtet der Miesbacher Pfarrer und auch von sittlichen Verbrechen, wohingegen der Haushamer Geistliche schreibt, dass der NS-Chef Danninger das Bergwerk sprengen lassen wollte, was verhindert werden konnte.
Den Neuanfang beschreibt Schliersees Pfarrer so: „Merkwürdig, es gibt keine Nazis mehr.“ Er habe überlegt und systematisch die Weichen gestellt, sagte Roland Götz, organisierte mit Hilfe der US-Kommandantur die Neoorganisation der Schule, wobei er eine Nazi-Lehrerin entließ und installierte einen Bürgermeister.
Am Ende kehrte der Historiker nach Holzkirchen zurück und schloss mit einer lakonischen Feststellung Pfarrer Immingers. Nach dem Krieg seien die Kirchen überfüllt gewesen, aber der religiöse Eifer aufgrund der „Spießbürgerlauheit“ sei schnell abgeflaut. Seine Ziel sei es jetzt, die verhetzte Jugend zu einer Gemeinde zu formen..