In die Augen der Menschen schauen

Amer Albayati mit seinem Buch. Foto: Petra Kurbjuhn

Thementag in Fratres/Niederösterreich

Einem brisanten Thema widmete sich der letzte Thementag der Kulturbrücke Fratres: Wie kommt es zu extremistischem Islamismus und ist eine Deradikalisierung von straffällig gewordenen Muslimen möglich? Dazu war auch einer der bestgeschützten Personen Österreichs eingeladen.

Das allerdings blieb bis zum Schluss ein Geheimnis. Aber nachdem Polizei und Bundesgrenzschutz den Gutshof in Fratres bewachten, war den Besuchern klar, dass dies ein besonderer Tag war. Amer Albayati, gebürtiger Iraker, ist ein führender international tätiger Journalist für Presse, Rundfunk und Fernsehen. Seit Jahren ist er aufklärerisch tätig und setzt sich für einen gemäßigten Islam ein. Das brachte ihm 15 Morddrohungen durch IS-Kämpfer ein. In seinem Buch „Auf der Todesliste des IS“ warnt er vor Radikalismus und Terror. Und am 9. September sprach er in der Kulturbrücke.

Radikalisierung
Christian Kuhn, Geschäftsführer der Kulturbrücke. Foto: Petra Kurbjuhn

Aber zunächst führte Christian Kuhn, Geschäftsführer des Partnervereins von Kulturvision e.V. in das Thema ein. Der Theologe und Seelsorger spricht aus eigener Erfahrung, denn er ist geschäftsführender Direktor der Sozialen Gerichtshilfe in der Justizanstalt Wien-Josefstadt. Dort ist er unter anderem für die Betreuung von Inhaftierten zuständig, die wegen terroristischer Handlungen oder Verbreitung und Finanzierung terroristischen Gedankengutes verurteilt wurden.

Sie brauchen ein Mentoring

Reichlich 60 Personen sind das und Christian Kuhn teilte sie in zwei Gruppen ein. Bei den Ideologen oder Hasspredigern gebe es wenig Hoffnung auf Änderung, musste er einräumen, denn das Märtyrertum sei Teil ihrer Identifikation. Dennoch, „das Gespräch darf nie aufhören“, sagte er. Anders sei es bei Jugendlichen, meist aus familiär schwierigen Verhältnissen stammend und stark beeinflussbar. Diese Jugendlichen leiden unter der Ungerechtigkeit der Welt, verfallen einem Göttlichkeitswahn und werden durch Hassprediger oder Zugehörigkeit zu einer Gruppe radikalisiert. „Sie brauchen ein Mentoring“, sagte Christian Kuhn.

In vielen Gesprächen habe er versucht die Inhaftierten zur Reflexion über die Frage zu bewegen, ob es nicht anmaßend sei, wenn nur eine religiöse Gruppe den Zugang zur Wahrheit habe. Auch das berühmte Analogieprinzip habe er angewandt, also die Feststellung, dass Menschen als endliche Wesen nur unzureichend über das göttliche Geheimnis sprechen können. Auf seine Frage nach dem Motiv ihrer radikalen Gesinnung habe er die Antwort erhalten: Verteidigung des Monotheismus. Aber Gott sei darauf nicht angewiesen, sei seine Antwort.

Lösung ist Normalität

Als Lösung schlug der Seelsorger Normalität vor, die darin bestehe, die Menschen weg von ihrem Wahn hin zu einem gelingenden Leben zu bringen, ihr Minderwertigkeitsgefühl durch wertschätzenden Umgang und einen aufklärerischen Prozess zu bekämpfen. „Aber der Erfolg lässt sich nicht bemessen, denn er ist ein Nichtereignis“, schätzte Christian Kuhn ein. Sein wichtigster Appell lautete: „Nicht in die Heiligen Bücher, sondern in die Augen der Menschen schauen.“

Radikalisierung
Christian Kuhn und Peter Prechtl. Foto: Petra Kurbjuhn

Mit Zahlen wartete Peter Prechtl auf, der Vollzugsdirektor im Bundesministerium für Justiz war. Der Strafvollzug sei ein Abbild der Gesellschaft, von etwa 9000 Inhaftierten seinen 3700 römisch-katholisch und 2248 muslimisch. Unter den ca. 60 wegen Terrorismus inhaftierten Muslimen seine drei Frauen und zehn Jugendliche.

Das Thema Radikalisierung erschrecke und bewege emotional, konstatierte Carla Amina Baghajati, Sprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich. Und deshalb sei es so wichtig, den Menschen die Hand zu reichen und ihnen bei der Sinnsuche zu helfen. Insbesondere müsse man dafür sorgen, dass die gefährlichen Einstellungen nicht andere anstecken. „Der Virus der Gewaltbereitschaft ist schwer zurückzufahren“, sagte sie. Insbesondere gebrochene Personen würden leicht infiltriert. Und junge Frauen würden das Abenteuer suchen, „der Gesichtsschleier ist cool“, meinte sie.

Radikalisierung
Carla Amina Baghajati, Sprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich. Foto: Petra Kurbjuhn

Der Missbrauch des Islam schmerze sie, sagte Carla Amina Baghajati, man müsse ihn theologisch besiegen und neue Antworten finden. Um Menschen Orientierung zu geben, sei das methodische Rüstzeug zu verfeinern. Insbesondere sei dazu erforderlich, dass den Menschen klar werde, dass eine wörtliche Koranauslegung ohne den historischen Kontext zu berücksichtigen schädlich sein könne.

Auch Amer Albayati fordert Reformen des Islam. Sein Eintreten für einen liberalen Islam, für Aufklärung, Demokratie, Friedfertigkeit und sein Aufruf gegen Radikalisierung und Terror brachte ihn auf die Todesliste des Islamischen Staates. Aber der Warner und Aufklärer geht unbeirrt seinen Weg, der ihn auch nach Fratres führte.

Radikalisierung
Ferhat Tanriverdi. Foto: Petra Kurbjuhn

Für den emotionalen Teil des Thementages sorgte Ferhat Tanriverdi. Der Musiker drang mit seiner Stimme in die Herzen der Besucher.

Amer Albayati: Auf der Todesliste des IS, Seifert Verlag

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