Schon immer beobachtete sie Menschen, ihre Gestik, ihre Mimik, ihr Verhalten. Und dachte sich dazu Geschichten aus. Stundenlang saß sie als Kind bei den Erwachsenen und hörte den Gesprächen zu, malte sich aus, was wohl dahinter stecken möge. Ihre zweite Leidenschaft war die Musik. Sie lernte Barockblockflöte, Klavier, später Querflöte und durfte schon bald bei Konzerten auftreten. „Musik war mein Ding, wenn ich durch die Musikschule ging und aus jedem Raum eine anderes Instrument hörte, das war wunderbar“, schwärmt die in Pirna bei Dresden aufgewachsene Sybille Geisberger. Als 12-Jährige bestand sie die Aufnahmeprüfung an der Jugendmusikschule in Dresden. Aber wegen eines Herzfehlers, der sich erst später als Falschdiagnose herausstellte, durfte sie nicht mehr Querflöte spielen. Ein Traum war ausgeträumt.
Ihren zweiten Traum, Lehrerin zu werden, ließ die Mutter nicht zu. Berechtigt, denn in der DDR hätte die Tochter als Lehrerin der Parteidoktrin folgen müssen. So entschloss sie sich die Fachschule für Kindergärtnerinnen zu besuchen, was der Erzieherausbildung entspricht. Es machte ihr gar keinen Spaß, denn auch hier stand alles unter dem Motto der sozialistischen Erziehung. Erst als es in die Praktika ging, fand Sybille Geisberger den gewählten Beruf schön.
Und dann erfüllte sie sich doch noch den Wunsch, Musiklehrerin zu werden, studierte neben dem Beruf und unterrichtet Flöte und musikalische Früherziehung an der Musikschule, bis es ihr der Kreisschulrat untersagte. Fortan lebte sie ihr musikalisches Talent privat aus, sang im Kirchenchor und fuhr zu Musizierwochen. In diesen Kreisen fühlte sie sich geborgen. „Da konnte man Vertrauen haben, das war eine schöne Zeit“, erzählt sie.
Inzwischen war sie Leiterin eines kleinen Kindergartens auf dem Land geworden, heiratete, der erste Sohn kam. Aber typisch für die DDR, die junge Familie lebte im Dachzimmer bei der Mutter, Wohnungen waren äußerst rar. Da entschloss sich das junge Paar, nach Weißwasser zu ziehen, dort gab es Neubauwohnungen und ihr Mann als Diplomingenieur fand eine gute Anstellung. „Es war wie Sibirien“, sagt Sybille Geisberger, sie habe sich überhaupt nicht wohl gefühlt in der Retortenstadt. Aber die Bewerbung ihres Mannes auf eine Stelle in Dresden wurde „aus kaderpolitischen Gründen“ abgelehnt. Zudem überlegte sich das Elternpaar, ob man den Sohn so verlogen aufziehen wolle, wie man es selbst erlebt hatte. Zweigleisig nämlich, was zu Hause über die Politik gesagt wurde, durfte nie öffentlich geäußert werden, auch nicht den Schulfreunden gegenüber. Man entschied, sich den unbequemen Weg zu gehen und die Ausreise in die Bundesrepublik zu beantragen. Inzwischen war das zweite Kind unterwegs. Eine sehr schwere Zeit folgte.
Angst, Staatssicherheit, Verhaftung und endlich Ausreise in den Westen im Frühjahr 1985. Eine Tante in Bad Aibling bot der jungen vierköpfigen Familie fürs erste Unterschlupf. Aber man fasste schnell Fuß in Bayern. Sybille Geisberger musste zwar einige Prüfungen ablegen, bis sie als Erzieherin anerkannt wurde, aber dann konnte sie in ihrem Beruf arbeiten und leitete lange Jahre einen Kindergarten.
Zunehmend spürte sie, dass die Eltern Rat benötigen, dass in den Familien Defizite und Unsicherheiten in der Erziehung auftreten. „Aber als Erzieher ist man kein Therapeut“, erklärt Sybille Geisberger. Ihr schon in der Kindheit angelegter Wunsch, mehr über die Psychologie des Menschen wissen zu wollen, manifestierte sich. Insbesondere interessierte sie sich für das Thema Resilienzförderung, also wie man Menschen dabei unterstützen könne, mit Problemen und Hindernissen im Leben zurecht zu kommen. Sie wollte den Familien professionell psychologisch beistehen und so entschloss sie sich vor zehn Jahren, nebenberuflich eine Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie zu machen. Eigentlich habe sie Psychologie studieren wollen, dann aber von der Schule in Rosenheim erfahren. „Das hat mich gefesselt“, sagt sie. Die meisten Teilnehmer besuchten die Schule berufsunterstützend, so wie sie zunächst auch. Dann aber wuchs im Hinterkopf der verdeckte Wunsch, noch einmal neu anzufangen und eine eigene Praxis zu gründen.
Nachdem auch private Veränderungen eingetreten waren – ihre Ehe wurde geschieden, sie nahm sich eine neue Wohnung, die einen eigenen Eingang hatte – wagte sie es und eröffnete vor sechs Jahren ihre Praxis für Psychotherapie. www.psychotherapie-geisberger.de
Aber sie fuhr, wie so viele Spurwechsler, wenn sie für den Lebensunterhalt sorgen müssen, zunächst zweigleisig und setzte ihre Arbeit im Kindergarten fort. Jetzt aber nach 25 Jahren ist sie aus dem angestellten Berufsleben ausgeschieden und fängt neu an. „Endlich kann ich meine Energie ganz auf die psychologische Beratung konzentrieren“, lacht sie. Sie machte eine Reihe von Zusatzausbildungen und kann unter anderem auch Medizinische Heilhypnose anbieten. Ihr neuer Partner, auch ein Spurwechsler, unterstützt sie dabei, auch er wechselte vom Manager zum Psychotherapeuten. Beide haben schwere Zeiten durchlebt, mussten berufsbedingte Belastungen mit körperlichen Reaktionen durchstehen, aber jetzt sind sie am Ziel. Gesund, glücklich, angekommen.
Monika Ziegler
Publiziert 13. Dezember 2013