„Es geschah am hellichten Tag“
Der Schriftsteller Robert Kraner. Foto: Isabella Krobisch
Schreibseminar in Weyarn
„Zeugen schaffen“, so hatte Robert Kraner sein Seminar benannt. Heißt, den Leser so in das Geschehen hineinziehen, dass er unmittelbar beteiligt ist und nicht durch die Stimme des Autors abgelenkt wird. Der aus dem nierderösterreichischen Waldviertel angereiste Schriftsteller, den der ausrichtende Verein Kulturvision über die Kulturbrücke Fratres kennengelernt hatte, zeigte eingangs anhand von Beispielen aus der Literatur, wo dieses „Dabeisein“ gelungen ist.
Sehr eindrucksvoll und nahezu schockierend die Szene einer Pfählung aus Ivo Andrič‘ Buch „Die Brücke über die Drina“. Robert Kraner erzählte, dass er als Neunjähriger dieses Buch entdeckt hätte und entsetzt gewesen sei, welcher Grausamkeiten Menschen fähig sind. Er sei aber nicht traumatisiert oder beschädigt worden, weil das Buch zwischen ihm und dem Geschehen gestanden habe.
Schwierige sich anbahnende Beziehung
Ganz anders die Szene aus Gustave Flaubers Roman „Madame Bovary“ die den Leser in die Küche von Emma führt und durch die Detailtreue der Beschreibung schon die schwierige sich anbahnende Beziehung zu ihrem Geliebten andeutet. Von Judith Nika Pfeifer stammt das Buch „zwischen“. Hier entwickelt sich aus einem Dialog über das Schwarmverhalten von Fischen und Ameisen ganz plötzlich eine Liebesbeziehung.
In Ilse Aichingers Band „Die große Hoffnung“ ist die Erzählung „Im Dienst einer fremden Macht“ enthalten. Der Autorin gelingt es, anhand eines verlorenen Vokabelheftes, dessen rote Korrekturtinte im Regen zerläuft, eine ganze Epoche mit Blut und Krieg und Verfolgung einzufangen.
Schreiben mit dem Herz, überarbeiten mit dem Verstand
Bevor die Teilnehmerinnen selbst ans Schreiben gingen, warnte sie Robert Kraner vor Anfängerfehlern, wie Adjektivinflation, Füllsel, schiefe Bilder, Klischees, Verdopplungen und Erklärungen. Man möge zunächst durchaus all diese überflüssigen Dinge schreiben, bei der Überarbeitung aber rigoros streichen, empfahl er. Als Motto gelte: Schreiben mit dem Herz, überarbeiten mit dem Verstand.
Die erste Übung hatte den von Dürrenmatt entliehenen Titel: „Es geschah am hellichten Tag.“ Wieder einmal war es, wie so oft bei den Seminaren von Kulturvision, erstaunlich, welch unterschiedliche Inhalte die Teilnehmerinnen zu einer Aufgabe fanden. Da war ein geplanter Anschlag auf einem Segelboot, eine Auseinandersetzung auf dem Bahnhof zwischen zwei Schülerinnen, eine Beinaheunfall mit einem Kind, ein sich anbahnendes Unwetter, eine Stalking-Geschichte, ein Unfall mit einem Beil, ein gewöhnlicher Arbeitsmorgen und eine Geschichte über eine Frau im Kanonendonner.
Alle Werkstatttexte machten Lust zum Weiterlesen, das kam bei der ausführlichen Feedbackrunde heraus, bei der jeweils zwei Teilnehmerinnen und Robert Kraner ihre Eindrücke vortrugen. Dabei wurde auch auf Möglichkeiten der Korrektur hingewiesen.
In einer zweiten Runde hieß das Thema „Augenpaare“ und in einer dritten Runde „Zeichen“. Die Zeit verflog beim Schreiben, Lesen und Diskutieren wie im Fluge und so blieb am Ende gerade noch so viel Zeit, dass Robert Kraner aus seinem Roman „Weißdorn“ eine kurze Passage lesen konnte.