Bleib ein Mensch – mit den Kusimanten
Tamara Lukasheva, deeLinde und Marie Theres Härtel verzaubern als Kusimanten den Tannerhof. Foto: Karin Sommer
Konzert in Bayrischzell
Wie klingen steirische Wurzeln vermischt mit ukrainischem Temperament? Exotisch, bodenständig, überraschend. Tamara Lukasheva, Marie-Theres Härtel und deeLinde beeindruckten ihr Publikum am Tannerhof in Bayrischzell mit technischer Präzision und überschäumender Kreativität.
Die beiden Schwestern Marie-Theres Härtel (Bratsche) und deeLinde (Cello) haben sich schon als Gründungsmitglieder der Formation „Netnakisum“ international einen Namen gemacht. Da war es vor allem die Volksmusik, die sie sich vornahmen und an ihre Grenzen und darüber hinausführten. In der Zusammenarbeit mit der vielfach preisgekrönten Sängerin Tamara Lukasheva frönen sie ihrer Lust am Experimentieren weiter und nehmen unterschiedlichste Musikrichtungen in die Hand, stellen sie auf den Kopf, schütteln den Inhalt durch die Luft und mixen ihn neu. Die „Kusimanten“ reisen durch die ganze Welt und kamen zum Glück auch in Bayrischzell vorbei.
Tiefenentspannt am Tannerhof
Ganz entspannt lassen sie das Konzert beginnen. Mit ruhigen, übereinandergelegten Stimmen, von Cello und Bratsche getragen. Marie-Theres Härtel und deeLinde fällt das wahrscheinlich besonders leicht, waren sie doch schon am Vortag angereist, um sich im Genusshotel Tannerhof verwöhnen zu lassen.
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Nach einer kurzen Einstimmung für alle sensiblen Ohren nimmt das Tempo aber rasch zu und lässt erahnen, dass der Abend ein vielschichtiger werden wird. Tamara Lukasheva legt die Finger ans Mikrofon, als ob es eine Flöte wäre und trällert los – mit einer bestechenden Präzision bis in schwindelnde Höhen, auf Ukrainisch, Englisch, Steirisch und besonders einnehmend in kraftvollen, gefühlvollen und freien Improvisationen, die ganz ohne Sprache auskommen. Passagen, in denen der gesamte Körper zum Instrument wird, vibriert, pulsiert, den Takt bestimmt.
„Wir können auch nach Noten spielen“
„Bleib ein Mensch“ ist der Titel des unlängst erschienenen Albums der Kusimanten, das am heutigen Abend vorgestellt wird. „Jetzt zeigen wir euch, dass wir auch nach Noten spielen können“ schmunzelt deeLinde und schon verschwinden die drei Musikerinnen beinahe hinter Notenblättern. Nur bei Uraufführungen, im heutigen Fall bei zwei Liedern, erlauben die drei Notenpulte auf der Bühne, ab dem zweiten Mal muss alles im Kopf vorhanden sein.
Cellistin deeLinde: nur bei Uraufführung sind Noten erlaubt. Foto: Karin Sommer
Neben eigenwilligen Coverversionen sind es vor allem die Eigenkompositionen, die begeistern. Marie-Theres Härtel erzählt von ihrer Balkonbepflanzung, mit der sie ihre Familie streckenweise ernährt. Besonders die Tomaten haben es ihr angetan und werden zum Lied „Paradies Paradeis“ verarbeitet. Wie viele andere der Kompositionen beginnt das Stück sanft und langsam und wächst in ständigem Crescendo zur temperamentvollen Liebeserklärung an die Tomate, österreichisch „Paradeiser.“
Drei starke Frauen – die Kusimanten. Foto:Karin Sommer
Eine ähnliche Dynamik ist bei den höchst interessanten Kompositionen von Tamara Lukasheva zu bemerken, besonders im Lied, das sie über ihre impulsive Mutter geschrieben hat. Ihre Stimme imitiert die temperamentvolle Frau so gut, dass man sie wahrscheinlich erkennen würde, wenn sie zur Tür herein käme.
Gestrichen, gezupft, gedrückt
Auch die Bratsche und das Cello werden an ihre Grenzen gebracht. Geduldig gestrichen, aber auch energisch gezupft, vom Bogen beinahe erdrückt, verlangen die Musikerinnen auch von ihren Instrumenten, den üblichen Rahmen zu verlassen. Ganz so wie ihre Spielerinnen wirken die Instrumente energisch, kraftvoll, wild und leidenschaftlich. Anlegen möchte man sich nicht mit dem manchmal geradezu bissigen Cello und seiner auch nicht viel friedlicheren Schwester, der Bratsche.
Kusimanten sind überall zu Hause
Und dann werden wieder andere Saiten aufgezogen und es erklingen süße Passagen, in denen die drei Stimmen sich aneinanderschmiegen, wunderbar harmonisch dreistimmig und manchmal sogar hell und klar jodelnd. Vom Funk zum Jazz, mit klassischen Klängen und folkloristischen Elementen, mit der Volksmusik des Ostens wie des Westens vertraut, irgendwie überall daheim und nirgends. Vielleicht gelingt gerade deshalb ein so authentisches, lebendiges und aufregendes Hörerlebnis für alle Ohren, die Neues und Unorthodoxes zu schätzen wissen. Und da sind sie ja am Tannerhof, wo es immer wieder außergewöhnliche Hörerlebnisse gibt, goldrichtig.
Aktuelle Ausstellung am Tannerhof: Katrin Hering und Barbara Nedbal – Eyes wide open