Reflexion, Sorgfalt und Solidarität
Pascal Mercier: „Das Gewicht der Worte“. Foto: MZ
Lesetipp von KulturVision
Zum heutigen Welttag des Buches möchte ich einen Roman empfehlen, der unendliche Langeweile verbreite, wie es in einer der bösen Rezensionen zu lesen ist. Mich hat „Das Gewicht der Worte“ von Pascal Mercier in keiner Minute des Lesens gelangweilt.
Im Gegenteil. Für mich war die Lektüre erhellend, bereichernd und ganz besonders passend für die aktuelle Situation, die uns alle zwingt innezuhalten, zu reflektieren, darüber nachzudenken: Wie wollen wir leben?
Pascal Mercier, berühmt geworden durch „Nachtzug nach Lissabon“, aber auch durch „Perlmanns Schweigen“ und „Der Klavierstimmer“ einer breiten Leserschaft bekannt, hat sich für seinen neuen Roman Zeit gelassen. 13 Jahre nach seiner Novelle „Lea“ erschien jetzt der lang erwartete neue Roman – und wurde von mehreren Kritikern verrissen.
Von Suada ist die Rede, von ständigen Wiederholungen, von Fantasielosigkeit, sogar von Charakteren ohne Konturen. Ich widerspreche vehement.
Sorgfalt
Beim Lesen werde ich immer wieder an die Lektüre von Adalbert Stifters „Nachsommer“ erinnert, einem Roman, in dem nahezu nichts passiert, der aber den Leser verändert. Er wird danach dem altmodischen Begriff der Sorgfalt wieder huldigen, sich am Umgang mit der Natur und deren Pflege erfreuen.
In „Das Gewicht der Worte“ geht es um andere Dinge, denen sich aber der Autor mit ebensolcher Sorgfalt wie Stifter widmet. Es geht um das Leben an sich und der Darstellung des Lebens. Dazu braucht es Worte. Simon Leyland ist Übersetzer, mit ganzem Herzen. Er ringt um das richtige Wort. Er flüchtete von der Eliteschule, um seine Vorstellung eines gelingenden Lebens zu führen.
Dieses Leben gelang auch, bis die mörderische Diagnose kam und sich nach 77 Tagen in Luft auflöste. Das ist der Plot, aus dem der Autor seine Betrachtungen über das Leben anstellt. Jawohl, es gibt Wiederholungen. Aber ich fühle mich nicht zum Idioten, wie es in einer Kritik heißt, abgestempelt, wenn ich eine wichtige Erkenntnis aus zwei Perspektiven wahrnehme.
Für sich selbst schreiben
Pascal Mercier ergänzt die Erzählung über seinen Protagonisten mit Briefen Leylands an seine verstorbene Frau Livia und dann klingt aus der Ich-Perspektive dieselbe Erfahrung eben etwas anders.
Es ist dann wie ein Tagebuch und die wesentliche Erkenntnis, die auch aus einer Nebenhandlung emporsprießt, ist, dass der Autor keineswegs für ein Publikum oder einen Rezensenten schreibt, sondern nur für sich selbst.
Lebendige Figuren
Charaktere ohne Kontur? Für mich ist Andrej Kuzmin, der Mann, der wegen Totschlags im Gefängnis sitzt und einen Roman vom Baskischen ins Russische übersetzt, in mehreren Versionen, immer wieder, um sich am Leben zu halten, ebenso plastisch wie Paolo, der Autor, der seine geschriebenen Blätter auf Holzbrettern ausbreitet.
Der irische Kellner, der Apotheker, der illegal Menschen in Not half und natürlich Leyland und seine Kinder Sophia und Sidney, alle Figuren stehen lebendig vor mir.
Schriftsteller Pascal Mercier und Philosoph Peter Bieri. Foto: Paula Winkler
Durch den Schriftsteller Pascal Mercier schimmert immer wieder der Philosoph Peter Bieri durch, dessen Buch „Eine Art zu leben“ für mich ein Basiswerk praktischer Philosophie ist. Hier scheint der Schriftsteller durch, was es leichter lesbar macht als andere philosophische Werke.
Und so ist für mich „Das Gewicht der Worte“ eine Anleitung zum ethischen Handeln. Zunächst eine Einladung darüber nachzudenken, wie ich gelebt haben möchte. Und dies dann umzusetzen, so wie die Protagonisten im Buch, die ihrem Leben noch einmal eine Wendung geben. Aus dem Übersetzer wird im reifen Alter noch ein Schriftsteller, aber einer, der nicht für Kritiker schreibt, sondern ausschließlich für sich selbst.
Daneben ist es für den Schreibenden eine Anleitung, wie ich Erfahrungen in Worte umsetze, wie ich sorgfältig mit ihnen umgehe, nicht mit heißer Nadel stricke, sondern das jeweils richtig klingende Wort benutze.
Solidarität
Es ist aber auch ein Bekenntnis zur Solidarität. Gut, nicht jeder von uns verfügt über die Mittel, einen maroden Verlag zu unterstützen oder einem Freund eine Wohnung zu kaufen. Es geht ja auch eine Nummer kleiner.
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So ist der Roman „Das Gewicht der Worte“ jetzt, wo wir Zeit haben, einen Roman zu lesen, der sorgfältig und reflektierend, auch wiederholend den Leser sehr sensibel auffordert, nachzudenken, eine überaus empfehlenswerte Lektüre.