„Die Uhr kann gehen“
Die Uhren der Autorin. Foto: MZ
Sonntagskolumne
Karlheinz A. Geißler ist seit Jahrzehnten der Zeitforscher schlechthin in Deutschland. Ich habe mich mit seinem neuen Buch „Die Uhr kann gehen – Das Ende der Gehorsamkeitskultur“ auseinandergesetzt, als pünktlicher, getakteter Mensch.
Früher, ganz früher in der Forschung war ich allerdings noch nicht getaktet. Da vergaß man die Uhrzeit, wenn man einem Phänomen auf der Spur war, man tauchte ein, grub sich tiefer und tiefer, wollte mehr wissen, vergaß die Zeit.
Das war so ähnlich wie bei kleinen Kindern, die über dem Spielen alles vergessen. „Flow“ nennt das der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi, dieses Gefühl der Konzentration und des beglückenden Aufgehens in einer Tätigkeit, zeitlos.
Zeitforscher Karlheinz A. Geißler. Foto: Petra Kurbjuhn
Später als Lehrerin und Mutter von vier Kindern musste ich nach der Uhr leben, pünktlich vor der Klasse stehen, pünktlich das Essen auf dem Tisch haben, pünktlich die Schularbeiten herausgeben, pünktlich in die Ferien fahren. Das getaktete Leben, in dem kaum Flow stattfand, höchstens, wenn man mit den Kindern Geschichten erzählte, wurde zur Normalität.
Vom Gaspedal gehen
Vor etwa 20 Jahren schenkte mir eine Freundin das erste Buch von Karlheinz Geißler, vielleicht als Mahnung, mal vom Gaspedal zu gehen und der Zeit wieder Raum zu geben. Erfolglos.
Jetzt aber erzählt mir Karlheinz Geißler in seinem Buch „Die Uhr kann gehen“, dass die getaktete Uhrzeit zu Ende ist. Und das sei auch gut so, denn sie widerspreche dem Rhythmus der Natur und schließlich sei der Mensch auch Teil der Natur. In der Natur aber gebe es keine festen getakteten Abläufe, sondern diese Abläufe seien flexibel und passen sich den Gegebenheiten an.
Buchcover „Die Uhr kann gehen“. Foto: MZ
Ich stimme ihm zu, denn ich erlebe in diesem Jahr etwas Seltsames. Die Bauern haben bereits Ende Juli mit dem Ernten des Getreides begonnen. Normal wäre August und so war es auch in den vergangenen Jahrzehnten meines Lebens. Jetzt aber reifte das Getreide schneller. Klimawandel.
Dem Klimawandel ist es auch zuzuschreiben, dass die Wälder abgeholzt werden müssen. Der Borkenkäfer hat aufgrund der Trockenheit, aber auch der Fichten-Monokultur zugeschlagen. Normalerweise hätten die Bäume noch viel Zeit zum Wachsen gehabt, die Altersversorgung der Landwirte. Jetzt gibt es Kahlschlag.
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Von Corona ganz zu schweigen. Ein Virus legt die ganze Welt ungeplant lahm. Diese Beispiele zeigen mir, dass die Natur ihren eigenen Rhythmus hat, ob gut oder schlecht, bleibt dahingestellt. Es ist einfach so.
Nun hat aber vor etwa 600 Jahren die Uhr die Menschen in ein Zeitkorsett gepresst und er hat sich pressen lassen. Das sei nun vorbei, sagt der Zeitforscher. Er sagt nicht, ob das gut oder schlecht ist, er schreibt ja keine Ratgeber oder Lebenshilfebücher. Karlheinz Geißler sagt, was die Uhr geschlagen hat, er stellt fest.
Smartphone löst die Uhr ab
Durch die Digitalisierung, durch Gleitarbeitszeit, Homeoffice und insbesondere das Smartphone werde die Uhr am Handgelenk obsolet. Viele Menschen verzichteten auf die Uhr, die Uhrenindustrie rüste um. Ebenso wie Segelboot und Pferd werde die Uhr vom Gebrauchsgegenstand zum Luxusgut umprogrammiert. Billiguhren indes sind nicht mehr gefragt.
„Uhrkette“. Foto: Petra Kurbjuhn
Ich habe in meinem alten Bauernhaus im Waldviertel fünf Uhren. Zwei davon gehen noch, die anderen sind gegangen. Ich ziehe sie schon lange nicht mehr auf, weil ich sie nicht brauche. Der Wecker geht, weil ich früh wissen möchte, wie spät es ist. Allerdings ist es auch nicht nötig, denn ich muss nicht pünktlich zur Schule und die Sonne zeigt mir eh an, ob Aufstehzeit ist.
Pünktlichkeit – eine Tugend?
Die Armbanduhr trage ich nur, wenn ich aus dem Haus gehe. Warum eigentlich? Ich habe kaum Termine, zu denen ich pünktlich erscheinen muss. Und wie lange ein Theaterstück im Wald4tler Hoftheater dauert, oder wie spät es beim Thementag in der Kulturbrücke Fratres ist, kann mir egal sein. Es dauert so lange bis es zu Ende ist.
Mit dem letzten Kapitel des Buches „Die Uhr kann gehen“ gehe ich zunächst nicht ganz konform. Karlheinz Geißler schreibt nämlich, dass auch die Pünktlichkeit nicht mehr up to date sei. Der disziplinierte Mensch, der auf Pünktlichkeit poche, sei out.
Ich liebe Pünktlichkeit und es ist bei der Kulturbrücke Fratres ein Running Gag, dass Hausherr Peter Coreth eiligst die Glocke schlägt, wenn wir von KulturVision auftauchen. „Die Bayern kommen, wir müssen pünktlich anfangen“, heißt es. Ich bin auch berüchtigt dafür, dass ich Punkt 21.30 Uhr den Spurwechselstammtisch auflöse. „Die Zeit ist um, es darf nicht ausfransen“, ist mein oft kolportierter Satz.
Ist das sympathisch? Eher nicht. Aber andere warten lassen auch nicht. Einigen wir uns also auf den Vorschlag Karlheinz Geißlers, dass man durchaus zu spät kommen darf, wenn man es ankündigt. Hoch lebe das Smartphone, das dies ermöglicht. Von der Uhrzeit also zur flexiblen Smartphonezeit.