Gedanken zum ersten Advent
Erzgebirgische Adventsdekoration. Foto: MZ
Sonntagskolumne
Heute ist der erste Advent. Normalerweise heißt das in unserer Familie: Gemeinsam lichteln und erstes Mal Plätzchen essen. Wir sind 15 Personen und vier Familien. In diesem Jahr aber ist alles anders. Es ist schlimm aber es gibt auch positive Aspekte.
Eigentlich wollte ich weder Plätzchen backen noch meine umfangreiche erzgebirgische Adventsdekoration aus dem Keller holen. So wie Ostern. Im ersten Lockdown entschied ich, Ostern zu ignorieren. Treffen durfte man sich nicht, also warum sollte ich Osterdecken bügeln, Ostereier färben, Osterzopf backen und hölzerne Osterhasen aufstellen? Schlimm fand ich das Ausbrechen aus der Tradition nicht, ich machte es mir auf der Couch gemütlich.
Jetzt also erster Advent und Weihnachten in vier Wochen. Als ich laut verkündete, dass es dieses Jahr keine Plätzchen gibt, erfolgte ein Aufschrei. Eine Freundin bot sogar ihre Hilfe beim Backen an, da sie mein Buttergebäck (sehr aufwändig in der Herstellung, da nur sehr dünn ausgerollte und ausgestochene Plätzchen durch meine Qualitätskontrolle gehen) sehr schätzt.
Plätzchen für den ersten Advent. Foto: MZ
Wir produzierten also am vergangenen Wochenende nicht die üblichen zwölf, aber immerhin doch sieben Rezepte, die Plätzchen sind wie immer wohlverwahrt in Blechdosen im kühlen Schlafzimmer. Und was brachte sie mir zum Backen als Geschenk mit? Einen Herrenhuter Adventsstern, den ich mir schon lange gewünscht hatte, da der meinige recht desolat ist. Das ist natürlich nun eine Aufforderung, doch die Wohnung adventlich herzurichten.
„Trotzdem!“
Widerwillig zunächst, aber dann mit der Überzeugung des „trotzdem“ holte ich die Kiste mit dem Adventsschmuck aus dem Keller. Und ich besorgte Tannenzweige und band einen Adventskranz, so wie immer. Ich bügelte die von meiner Mutter vor 50 Jahren gestickten Weihnachtsdecken. Dazu legte ich wie immer die alten aus der DDR stammenden Schallplatten mit Weihnachtsliedern auf. Dabei fiel mir ein Album mit Liedern von Erika Pluhar in die Hand. „Es war einmal – ein Lebensweg in Liedern“. Und ich hörte auch diese Musik. Nummer 17 heißt „Trotzdem“. Die österreichische Sängerin und Schauspielerin, die wir in der 10. Ausgabe der KulturBegegnungen auf Seite 26 vorstellten, singt hier im Refrain:
„Trotzdem kämpfen wir
Trotzdem glauben wir
Trotzdem lieben wir…
Trotzdem!“
Erika Pluhar. Foto: Isabella Krobisch
Ich fand im Internet eine Rede von ihr, die sie 2005 zum 100. Geburtstag von Viktor Frankl gehalten hatte. Sie begann mit einem Zitat des bekannten Psychiaters: „Im Erfüllen von Sinn verwirklicht der Mensch sich selbst. Erfüllen wir nun den Sinn von Leiden, so verwirklichen wir das Menschlichste im Menschen, wir reifen, wir wachsen, wir wachsen über uns selbst hinaus. Gerade dort, wo wir insofern hilflos und hoffnungslos sind, als wir eine Situation nicht ändern können – gerade dort sind wir aufgerufen und ist uns abverlangt, uns selbst zu ändern.“
Sinn finden
„Trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ ist das bekannteste Werk eines Mannes, der nach dem gekürzten Nietzsche-Zitat: „Wer ein WARUM zu leben hat, erträgt fast jedes WIE“ seine Logotherapie aufbaute. Es geht nach Viktor Frankl um den Sinn des Lebens. Er sagte: „Sinn muss gefunden werden, kann nicht erzeugt werden.“ Ganz am Rande: Dieses Zitat widerspricht dem heute ständig benutzten „Das macht Sinn“.
Nach erzgebirgischem Brauch stehen im Fenster Engel und Bergleute, je nach Größe der Familie. Foto: MZ
Ich sitze also inmitten von Pyramide, Engel, Bergmännern, Räuchermännern und dem Adventskranz und überlege, wie ich den Sinn in Corona, Lockdown und verbotener Familienzusammenkunft finden kann. Und spüre, dass genau diese Reflexion zum Sinn führt. Es geht uns gut, wir haben ein Dach über dem Kopf, es ist warm, sauberes Wasser sprudelt aus dem Hahn, der Kühlschrank ist gefüllt. Meine 94-jährige Freundin erzählte mir neulich am Telefon, dass sie zu Weihnachten 1944 als blutjunge Flakhelferin in einem selbst gegrabenen Erdloch hockte, während die Bomben fielen. „Und jetzt regen sich die Leute auf, dass sie nicht Party feiern können? Ich fasse es nicht, das ist ein Virus, dem wir ausgeliefert sind, da sollten wir einfach nur demütig und dankbar sein für das, was wir haben.“
Heute Nachmittag zum ersten Advent wird die Familie meines älteren Sohnes zu mir kommen und wir werden im kleinen Kreis die Kerzen anzünden und die ersten Plätzchen essen, dankbar dafür, dass wir uns haben.