Von wunderwirklichen Worten
Das Grimmsche „Deutsche Wörterbuch“ diente als Vorlage für Peter Grafs „Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten“. Foto: Hannah Miska / pixabay
Buchtipp von KulturVision
Aschenputtel, Frau Holle oder Hänsel und Gretel? Grimms Märchen, wir kennen sie alle. Wer weiß aber schon, dass die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm im Jahre 1838 damit begannen, ein Wörterbuch zur deutschen Sprache seit dem 16. Jahrhundert zu erarbeiten? Es war ein ehrgeiziges Projekt, das erst einhundertdreiundzwanzig Jahre später vollendet werden sollte. Das Grimmsche Wörterbuch hat bis heute nichts an Aktualität verloren.
Es war schon schön: Dieses allgemeine Aufatmen, als er sich am 20. Januar endlich nach Florida verabschiedet hatte. Auch ich habe mich gefreut. Und gottlob – so muss man das ja sehen – waren auch alle meine Freunde und Bekannten mehr als beglückt. Nur Gabriele verzog den Mund: Was bitteschön, so fragte sie, solle man denn jetzt zum täglichen Vergnügen in der Zeitung lesen? Oder auf Facebook oder Twitter? Zurück blieben doch nur: Covid, Stress und Langeweile.
Da ist was dran. Sleepy Joe ist keiner für die Schlagzeilen. Auch nicht dessen bodenständige Frau Jill, die als First Lady – halten Sie sich fest – als Lehrerin weiterarbeiten will. Wo bleibt da der Glamour? Douglas Emhoff, der sogenannte Second Gentleman, sah bei der Amtseinführung im konservativ zweireihig geknöpften grauen Mantel auch nicht gerade so aus, als würde er viel zur Unterhaltung der Massen beitragen.
Ich weiß nicht, wie Gabriele das Problem lösen wird. Ich für meinen Teil habe beschlossen, Presse, Facebook und Twitter den Rücken zu kehren und mich wieder einem alten Hobby zu widmen: der deutschen Sprache.
Sätze für die Ewigkeit
Mit Wolf Wondratschek hatte es damals angefangen: das Sätze-Sammeln. Wunderbar, W‘s erster Buchtitel: „Früher begann der Tag mit einer Schußwunde“. Der Satz ist kein Satz, sondern ein komplettes Drama. Oder Heiner Müller, der seine Autobiografie mit dem Satz beginnt: „Ich war eine schwere Geburt.“ – einfach klasse. Wunderbar auch Margaret Mitchell, die ihren berühmten Roman (in der Übersetzung von Martin Beheim-Schwarzbach) mit dem ganz und gar unprätentiösen Satz beginnt: „Scarlett O’Hara war nicht eigentlich schön zu nennen.“ Es sind Sätze für die Ewigkeit.
Lesetipp: Zündende Sprachsalven mit Prost & Prosa
Das Grimmsche Wörterbuch und seine Wörter für die Ewigkeit
Inzwischen, nachdem ich neulich auf den Grimm gestoßen bin, sammle ich auch Wörter. Der Grimm: Das größte und umfangreichste deutsche Wörterbuch, benannt nach den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm. Die Brüder – beide Philologen – begannen 1838 an diesem ehrgeizigen Projekt zu arbeiten. Zehn Jahre hatten sie dafür veranschlagt, tatsächlich schafften sie es bis zum Buchstaben F, bevor sie (mehr als zwanzig Jahre nach Beginn des Vorhabens) starben. Doch nachfolgende Sprachwissenschaftler setzten das wichtige Werk fort, bis im Jahr 1961 schließlich der 32. und letzte Band des Deutschen Wörterbuchs erschien. Die komplette Ausgabe enthält ca. 330.000 Stichworte und wiegt 84 kg.
Von A wie apothekerbleich bis Z wie Zuckerzierlichkeit
Zum Glück hatte Peter Graf vor einigen Jahren die famose Idee, eine „Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten“ aus dem Grimmschen Wörterbuch herauszugeben. Mit 352 Seiten ist das Buch ein Leichtgewicht. Inhaltlich wiegt es dafür umso schwerer: Es birgt eine Vielzahl sprachlicher Kostbarkeiten und ist zudem eine wunderschön gestaltete bibliophile Ausgabe.
A – der edelste, ursprünglichste aller Laute, aus Brust und Kehle voll erschallend. Foto: Hannah Miska mit Genehmigung des Herausgebers
Unter dem Buchstaben B stolpere ich über die „Besuchameise“ – diese „feinsten und geistreichsten fremden und Besuchameisen, die vorüberrennen und in drei Tagen vergessen sind“. Besuchameisen, wie schön. Hätte man nicht so unsere Freunde aus der Stadt nennen können, anstatt sie übel zu beschimpfen? Liebe Münchner Besuchameisen, bitte lauft doch ein wenig langsamer, damit ihr erst nach der Impfung im Landkreis Miesbach ankommt. Sonst müssten wir bienenböse (wir sind grün!) werden. Nach der Impfung könnt ihr dann gern wieder bei uns als Bierluder, Bierlümmel oder Biermörder im Bierglück schwelgen (alles Buchstabe B). Und wenn ihr dazu dann noch einen Schweinsbraten verzehrtet, wären wir dritthimmelverzückt. Hätte sich doch ganz anders angehört.
Lesetipp: Michael Maar und „Die Schlange im Wolfspelz“
Unter dem Buchstaben L stoße ich auf das Wort „Lügenglück“. Ich bin perplex. Ja haben die Brüder Grimm (oder deren Nachfolger) denn damals schon den Brexit vorausgesehen? Ein historisches Ereignis, das nur auf dem festen Fundament von Lügen wachsen konnte und dennoch – jedenfalls unter der Hälfte der britischen Inselbewohner – enorme Glücksgefühle auslöst. Brexit, genau, das Lügenglück.
Hoffnungsgrün statt Angstgezitter
Es ist eben eine Geistesverwilderung im Gange, nicht nur auf der Insel, auch sonstwo in der Welt. Die Pandemie wird für viele zum Quälodram und auf der Straße trifft man immer mal wieder Kurzdenker und Querärsche, die übelanständig groben Unfug reden. Da braucht es irgendwann mal einen großen Entschuldigungsschwamm! Denn, liebe Leute, so kuhfinster ist es nun wirklich nicht: Auch wenn unsere Simpelfranzen (Stirnfransen) uns mal eben die klare Sicht verdecken, auch wenn wir im Moment nicht mit den Freundinnen in der Stadt schlampampeln oder mit der Familie in ferne Länder fortbechern können – wir dürrmaulen nicht und haben doch immer noch unsere Gurgelfreude (am Essen und Trinken). Wer jetzt nicht eselmännisch ist, freut sich auf die bevorstehende Impfung und die Rückkehr in das ganz normale Leben – Zeit also für Feuerentzücken und Freudenohrenklingen.
Das Ichlein und der Ichling. Foto: Hannah Miska mit Genehmigung des Herausgebers
Nein, den mähnenumflatterten Ichling brauchen wir nicht zur Unterhaltung. Das Grimmsche Wörterbuch schon. Es gehört in jeden Bücherschrank.
Jacob und Wilhelm Grimm: Das Deutsche Wörterbuch, Neubearbeitung, Hirzel Verlag , 32,90 Euro