Woran können wir uns heute orientieren?
Realität und Wunsch klaffen auseinander. Realität ist verworren, Wunsch ist klare Struktur. Grafik: Henning Kurz
Online-Vortrag der vhs Oberland zu Erich Fromm
Unter diesem Titel bot Henning Kurz im Rahmen der Reihe „Jüdische Denker“ der vhs Oberland eine Reise durch die Geschichte der Ethik mit dem Fokus auf Erich Fromm, der sich intensiv mit ethischen Fragen aus psychoanalytischer Sicht befasst hat. Und er gibt in der Tat eine Orientierungshilfe.
Das Problem der heutigen Zeit ist ihre Komplexität, führte vhs-Vorsitzender Thomas Mandl in den Online-Vortrag ein. In Zeiten der Globalisierung, Digitalisierung und jetzt der Pandemie nehme die Unsicherheit zu, aber auch die Unentschlossenheit. Andererseits aber haben die Menschen eine geringe Ambiguitätstoleranz, heißt, können schwer mit Mehrdeutigkeit umgehen und wünschen sich eindeutige Ansagen. Darauf sei wohl auch die Beliebtheit von CSU-Chef und Ministerpräsident Markus Söder zurückzuführen, man glaube, dass er wisse, wo es langgeht.
Henning Kurz. Foto: privat
Henning Kurz, Leiter der vhs Grenzach-Wyhlen und evangelischer Theologe, nahm den Ball auf und gab eine vorläufige Antwort auf die Frage, was überhaupt Moral sei mit dem bekannten Zitat von Erich Kästner „Es gibt nichts Gutes außer man tut es.“
Unsere heutige Zeit sei im Gegensatz zur Vergangenheit, etwa dem Mittelalter, in der es maximale Sicherheit und minimale Freiheit hinsichtlich der religiösen, familiären und lokalen Verwurzelung gegeben habe, durch minimale Sicherheit und maximale Freiheit gekennzeichnet. Heute müsse jeder Mensch das Drehbuch seines Lebens selbst schreiben. Das eröffne Chancen, sei aber auch eine fragile Sache.
Der entfremdete Mensch nach Erich Fromm. Grafik: Henning Kurz
Erich Fromm habe diese Situation als existenzielles Dilemma des Menschen bezeichnet. Der Mensch müsse den Spagat zwischen seiner Natur, dem „du musst“ und der Kultur „du sollst“ bewältigen. Der Markt der vielen Möglichkeiten sei das Problem, denn man wünsche sich eigentlich eine klare Welt, in der man wisse, was man zu tun habe.
Dies öffne populistischen Strömungen die Tür und ebenso gerate man in die Fänge von Algorithmen wie bei amazon.
Humanistisches und autoritäres Gewissen
Der Referent arbeitete den Unterschied zwischen Religion, bei der alle Fragen beantwortet werden, und Philosophie, in der Fragen gestellt werden, heraus. „Die Grundidee einer säkularen Gesellschaft ist, dass es keine Instanz gibt, die über dem Gesetz steht. Ebenso stellte er die Kantsche Gesinnungsethik, die von absoluten Normen ausgeht, der Verantwortungsethik gegenüber, die von relativen Normen ausgeht.
Bei der Frage nach dem Gewissen zitierte Henning Kurz wiederum Erich Fromm, der einem humanistischen Gewissen das autoritäre Gewissen gegenüberstellte. Ersteres als Stimme unserer liebenden Fürsorge fördere seelische Gesundheit und letzteres mache uns fremdbestimmt und verhindere den Zugang zu echten Bedürfnissen.
Wie frei sind wir? Grafik: Henning Kurz
„Wie frei sind wir?“ fragte der Referent. Natürlich schränke die genetische Ausstattung, die Familie, Erziehung, Triebstruktur und körperliches Befinden die Freiheit ein, aber dennoch habe der Mensch Entscheidungsspielräume. Er zitierte den Existenzialisten Jean-Paul Sartre: „Die Freiheit ist das, was der Mensch aus dem macht, was die Verhältnisse aus ihm gemacht haben.“
Allerdings sei es anstrengend, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Angesichts der heutigen globalen Krisen aber müsse der Mensch Verantwortung übernehmen, nicht nur in der Familie, sondern ebenso in einem Land und letztlich für die gesamte Menschheit, auch wenn es schwer sei, einen ethischen Konsens zu finden.
Im Zusammenhang mit der Klimakrise zitierte er Albert Schweitzer mit dessen berühmten Satz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Die Verbundenheit von allem zu erkennen, sei eine gute Orientierung. Danach sei es gut, Leben zu erhalten und schlecht, Leben zu vernichten. Als praktisches Beispiel nannte Henning Kurz den Fleischkonsum, danach sei es moralisch geboten, diesen zu reduzieren.
Erich Fromm liefert hilfreiches GPS
Insgesamt, so schlussfolgerte er, verlange der Prozess der ethischen Urteilsfindung viel ab. Komplexe Fragen müsse man komplex beantworten. Erich Fromm beantworte nicht, sondern er biete ein hilfreiches ethisches GPS zur Orientierung an.
Wichtig sei, dass man Entscheidungen revidieren könne, dennoch bleibe es schwierig und anstrengend. Eine Orientierungshilfe aber habe Fromm parat: Man möge sich an der Liebe zum Leben orientieren. „Was macht das Leben lebenswert?“ Dieser Frage solle man sich stellen. Und dazu gehöre auch eine gewisse Unsicherheit auszuhalten, Ambiguitätstoleranz zu entwickeln. „Innere Konflikte zeigen seelische Gesundheit“, gab Henning Kurz mit auf den Weg.
Lesetipp: Ambiguitätstoleranz gesucht
Liebe als Grundhaltung, und zwar als Liebe zu sich selbst ebenso wie zu anderen Menschen und auch zu Tätigkeiten, das habe Erich Fromm in seinen Schriften empfohlen.
In der Diskussion ging es unter anderem um Fobo – the fear of better options, also Menschen, die Angst vor Entscheidungen haben, weil es vielleicht etwas Besseres gegeben hätte, und Henning Kurz warnte davor, marktkompatible Einzelkämpfer zu erzeugen. Eigentlich habe der Mensch die Anlage zur Kooperation.
„Tu was du willst“
Was er jungen Menschen mitgeben wolle, sei das Buch „Tu was du willst“ von Fernando Savater, was bedeute: Tu und zwar etwas, was du wirklich willst. Und Thomas Mandl fügte den bekannten Augustinus-Satz an: „Liebe und tu, was du willst.“