Gedanken zu 60 Jahre Mauerbau
Szene an der Berliner Mauer aus dem Film „Bernauer Straße“ von Ast-Film Berlin. Foto: Jürgen Ast
Kolumne zum Mauerbau
Heute vor 60 Jahren ließ die DDR-Staatsführung unter Walter Ulbricht eine Mauer bauen, antifaschistischer Schutzwall, so wurde der Mauerbau in der DDR euphemistisch genannt. Schicksalhaft veränderte sie das Leben vieler Menschen.
Vor einer Woche lief in der ARD das Film „3 ½ Stunden“, zu dem der Miesbacher Drehbuchautor Robert Krause gemeinsam mit Beate Fraunholz das Buch schrieb, als Koproduzent war der Haushamer Felix von Poser von AMALIA Film dabei. Die Einzelschicksale der Menschen, die in dem Zug von München nach Ostberlin am 13. August 1961 genau dreieinhalb Stunden Zeit haben, um über ihre Zukunft zu entscheiden, die heißt Heimat oder Freiheit, sitzenbleiben oder aussteigen, lässt niemanden unberührt. Robert Krause hat sie detailliert in seinem gleichnamigen Roman noch tiefgründiger ausgeführt:
Lesetipp: Du hast dreieinhalb Stunden – wie entscheidest du?
Er ist Insider, in Dresden geboren, floh er im Sommer 1989 über Ungarn in den Westen. In dem Buch verarbeitet er Familiengeschichte ebenso wie fiktive Schicksale, die am Tag vom Mauerbau erzählt werden.
60 Jahre Mauerbau
Als ich das Buch las, dachte ich an meinen 13. August 1961. Es war ein Sonntag und fassungslos hörte ich im Radio, was da gerade in Berlin passierte, nachdem Walter Ulbricht noch kurz vorher getönt hatte: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.
Eine Woche vorher war ich mit meiner Mutter nach Berlin gefahren. Es war ihr Geschenk zur Jugendweihe. Sie wissen nicht, was das ist? Gibt es heute noch, ich sah vor wenigen Tagen in einem Supermarkt meiner Heimatstadt Freiberg Glückwunschkarten zur Jugendweihe. Sicher läuft sie heute unter einer anderen Prämisse als damals.
Damals also mussten wir schwören, für die sozialistische DDR zu arbeiten und zu kämpfen. Die Teilnahme war verpflichtend, bei Verweigerung kam eine Aufnahme in die Erweiterte Oberschule, die zum Abitur ab der 9. Klasse führte, nicht in Frage. Die meisten Pfarrer umgingen die Jugendweihe, indem sie die Konfirmation einfach ein Jahr später ansetzten, unser Pfarrer warf uns aus dem Konfirmandenunterricht raus.
Letzter Tag in Westberlin 12. August
Wir verbrachten also eine Woche in Ostberlin und fuhren jeden Tag frühmorgens mit der S-Bahn nach Westberlin. Meine Mutter hatte gespart und tauschte die DDR-Mark vier oder gar fünf zu eins in Westmark um. Wir gingen am Kudamm spazieren, aßen unsere mitgenommenen Brote auf einer Parkbank und gingen nachmittags ins Kino. Ich erinnere mich an „Ein Mann geht durch die Wand“ mit Heinz Rühmann. Am letzten Tag, dem 12. August, setzten wir das letzte Geld in einem Café um, ich durfte ein Stück Apfelkuchen bestellen, meine Mutter trank eine Tasse Kaffee.
Meine Mutter hatte schon vier Jahre früher darüber nachgedacht, in den Westen zu gehen. Sie hatte ordentlich Geld beiseitegelegt und wir fuhren in den Ferien nach Oberstdorf, wohnten und aßen sehr bescheiden und genossen die alpine Welt. Eigentlich wollte sie bleiben, traf aber ehemalige Freiberger, die ihr dringend abrieten. Es sei sehr schwierig als Zugereiste Fuß zu fassen.
Keine Ostalgie
Das Schicksal hatte es also gewollt, dass ich in der DDR aufwuchs. Was mir an Robert Krauses Buch so gut gefallen hat, ist, dass er die Systeme nicht gegeneinander ausspielt, nicht in Schwarz-Weiß malt, auch positive Aspekte in der DDR stehen lässt. Nein, ich bin kein Ostalgiker, sondern habe das System gehasst und bin nicht ohne Grund 1983 per Ausreiseantrag nach Bayern gekommen.
Aber ob ich auch im Westen die Karriere als Naturwissenschaftlerin in den siebziger Jahren hätte machen können? Kollegen aus dem Westen waren immer bass erstaunt, wenn sie uns Frauen aus dem Ostblock auf Konferenzen begegneten. Heute ist das anders.
Kitaplätze und Haushaltstag
Für unsere Wohnung in der besten Gegend von Halle von 120 Quadratmetern bezahlten wir 120 DDR-Mark Miete. Das darf ich nicht mit meiner jetzigen Miete vergleichen. Kitaplätze standen der berufstätigen Mutter selbstverständlich zu, mit zwei Kindern durfte ich eine dreiviertel Stunde eher heimgehen und einen freien Tag im Monat für Behördengänge oder Hausarbeit gab es auch.
Dagegen stand die Bespitzelung durch die Stasi, das Eingesperrtsein, die Sehnsucht nach Freiheit.
Lesetipp: Die Bernauer Straße: ein deutscher Schicksalsort
Ab 1984 erlebte ich die Freiheit des Westens, hier wurde man nicht gelebt, hier lebte man. Die Welt stand offen, sofern man über das notwendige Geld verfügte. Oft dachte ich an die Streitgespräche in der DDR mit einem Kollegen aus Frankreich zurück, überzeugter Kommunist, der mir genau das aufs Brot strich. „Meinst Du, dass der Bettler in die USA fliegen kann?“ Bettler gab es in der DDR nicht, jeder hatte Arbeit und Arbeitslosigkeit herrschte nur in den Betrieben, wenn beispielsweise kein Material da war.
Beide Systeme
Heute, zum 13. August, dem Tag 60 Jahre Mauerbau, bin ich dem Schicksal dankbar, dass ich beide Systeme erleben durfte. Die DDR hat mich Bescheidenheit, sparsamen Umgang mit Ressourcen, Reparaturkultur aber auch herzliches Miteinander gelehrt. Der Regisseur Celino Bleiweiss hat es einmal bei einem Reithamer Gespräch so ausgedrückt: „In der DDR war man unter einem Regenschirm dicht beieinander, im Westen hat jeder einen Schirm.“
Dafür durfte ich mir im Westen meinen Traum erfüllen und Journalistin werden. Das wäre in der DDR nur mit einem Eintritt in die SED möglich gewesen. Kinder und Enkel wachsen in einer freiheitlichen Demokratie auf. Was sie jetzt, nachdem die Konsum- und Wegwerfgesellschaft des Westens ausgedient hat, lernen müssen, das ist das, was uns in der Mangelwirtschaft kreativ werden ließ: Sparsamkeit im Umgang mit Ressourcen, aber auch Bescheidenheit und weg vom Individualismus hin zur Gemeinschaft unter einem Regenschirm.