Woher nehmt ihr nur die Sicherheit?

Blickwinkel. Foto: Pixabay

Meinungen und Sicherheit

Dorfgemeinschaft und Verwandtschaft. „Die Impfquote ist schon wieder gestiegen. Immer mehr knicken ein! Die haben kein Rückgrat! Aber wir bleiben standhaft!“
Arbeitsplatz. „Wie erreichen wir nur die letzten 30%? Wie können sie so verantwortungslos sein? Was läuft bei denen falsch?“

Zwei Welten, zwischen denen ich beinahe täglich hin und herwechsele. Und in beiden Welten kann ich den Leuten umso weniger zuhören, je überzeugter sie sich präsentieren. Wie kann man denn bitte mit Sicherheit überzeugt sein, wenn so viele Informationen auf einen einprasseln, die mal der einen, mal der anderen Seite in die Hände spielen? Und warum überhaupt zwei so klar getrennte Seiten? Eine klare Meinung zu haben, hat meiner klaren Meinung nach einen zu guten Ruf.

Meinungen und Sicherheit

Ich stolpere über das Wort „haben“. Eine Meinung „haben“. Wäre „vertreten“ richtiger? Welche Meinung sie haben bleibt womöglich sogar bei den vehementesten Meinungsvertretern im Verborgenen. Das Wort Meinungshaber existiert nicht, Meinungsvertreter oder Meinungsbildner sehr wohl. Haben manche Menschen einfach entschieden, sich nach außen hin auf eine Seite zu stellen, zum Gefallen für die Mitmenschen, die sich dann besser auskennen und sich aufgehobener fühlen, wenn sie wissen, wen sie wo einordnen können? Sind die vermeintlich engstirnigsten Meinungsvertreter in Wirklichkeit Menschenfreunde, die der Gesellschaft die Sicherheit eines schwarz-weißen Schubladendenkens ermöglichen wollen? Nein, das sind sie nicht. Ich fühle mich kein bisschen sicherer, wenn alle Graustufen ignoriert werden. Im Gegenteil, ich fühle mich dann wie ein Alien.

GrautöneDie Welt ist nicht schwarz-weiß, sondern besteht aus vielen Grautönen. Foto: Christine Rummel

Ich will schreien oder von mir aus auch nur flüstern: „Wie kannst du dir so sicher sein? Und wenn du es nicht bist, warum musst du dich präsentieren als wärst du es? Du bist nicht klüger oder gebildeter als ich. Warum meinst du, mir die Welt erklären zu müssen, geschweige denn zu können? Ich würde mich dir viel verbundener fühlen, wenn du sie mit mir zusammen nicht verstehen aber dich mit mir an ihr freuen würdest. Nicht an der ganzen Welt, denn über alles brauchen wir uns nicht zu freuen, aber über die kleinen Dinge. Und wenn wir uns gerade beide überhaupt nicht freuen können, dann lass uns gemeinsam staunen. Lass uns verwundert sein, aber nicht sicher. Lass uns nicht sicher sein, denn dass du damit recht hast, werde ich dir nie glauben.“

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Konferenzen mag ich nicht

Ein Roman-Antiheld, der die ganze Geschichte über als Unsympath dient, hat mich mit einer Aussage doch zum Schmunzeln gebracht: „Konferenzen kann ich nicht leiden. Da versuchen die einen Klugscheißer den anderen Klugscheißern zu beweisen, wer der noch größere Klugscheißer ist.“

Ich brauche solche Beweise nicht. Und Konferenzen mochte ich bisher nur in den seltensten Fällen. Lasst uns doch darüber sprechen, was uns wirklich bewegt, statt Phrasen wie Schilder vor uns herzutragen. Und wenn gerade niemand sprechen will, dann lasst uns so ehrlich sein und die Konferenz absagen. Ich bin nicht in der Position, Konferenzen abzusagen und ich bin auch auf Partys noch nie aufgestanden mit den Worten: „Hier gibt’s nur noch Meinungsmonologe, lasst uns die Feier auflösen.“ Stattdessen verfalle ich in Schweigen und liege auf der Lauer, passe den Moment ab, um ein Gespräch zu starten, das mich interessiert. Und wenn der Moment nicht kommt oder ich ihn verpasse, sitze ich die Zeit ab, gehe länger zur Toilette als nötig oder muss öfter zum Telefonieren raus als nötig. Damit bin ich unhöflich. Stimmt. Und ihr Meinungsvertreter seid unhöflich, wenn ihr einer ganzen Feiergesellschaft oder dem Kollegenkreis die Zeit stehlt, indem ihr eure Phrasen drescht, anstatt dazu zu stehen, dass euch gerade nichts Interessantes einfällt.

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Einen Moment einfach leise sein

Seid in dem Moment doch einfach leise, es kommt schon wieder der Augenblick, indem ein Gespräch entsteht. Oder ist das Meinung Vertreten in Wirklichkeit eine Übung, um den Mund trainiert zu halten, sodass er für die wirklichen Gespräche warm ist, anstatt aus der Stille heraus von 0 auf 100 hochschalten zu müssen? Dafür hätte ich sogar Verständnis, denn um ehrlich zu sein: Die Barriere kann ziemlich hoch sein, nach einer Stunde still ertragenen Meinungsaustausches das erste Wort zu sagen, und sei es noch so gut gemeint.

Christine Rummel. Foto: privat

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