Wie reagieren Menschen in einer anderen Welt?
Michael Lichtwarck-Aschoff. Foto: Mirko Markic
Lesung im Schlierseer Kulturherbst
„Hoffnung ist das Ding mit den Federn“ nennt Michael Lichtwarck-Aschoff sein erstes Buch, aus dem er im Schlierseer Kulturherbst am 23. Oktober lesen wird. Es geht um den Traum vom Fliegen, seine Geschichten spielen in Schussenried, einer psychiatrischen Klinik.
Als Michael Lichtwarck-Aschoff durch eine Radiosendung von Gustav Mesmer hörte, der wegen „Erfinderwahn und Kindlichkeit“ weggesperrt wurde, begann er sich intensiv mit dieser Person zu beschäftigen. Seine erste Geschichte beschreibt einen Tag im Jahr 1946, als der Erfinder seinen Traum vom Fliegen mit einer selbst gebauten Apparatur von der Klostermauer weg verwirklichen wollte.
Auch der Protagonis der zweiten Erzählung, Pater Kasper Mohr ist eine historische Person. Er lebte im 17. Jahrhundert und ist im Deckenfresko von Schussenried mit Flügeln dargestellt. Er wollte unbedingt die Bauern zum Kartoffelanbau ermutigen. Diese aber glauben einem nur, wenn man an einem Blutsonntag fliegen kann. Und auch er flog.
Weltfriedensprojekt während der Kubakrise
In den sechziger Jahren spielt die dritte Geschichte, als die Insassen von Schussenried während der Kubakrise ein Weltfriedensprojekt verwirklichen wollen. Mit einem Zeppelin. Und Gesche, die Bucklige, sie soll dabei sein, sollte mit hinausschweben. Ob das gelingt?
Um 1800 spielt die vierte Geschichte, in der es um einen Schachtürken geht, den Nepomuk Mälzer vom Erfinder Wolfgang von Kempelen erworben und vermarktet hat, ein mechanisch beweglicher Schachspieler, in dem sich ein Mensch versteckte. Der Autor hat sich dafür eine besonders spannende Variante ausgedacht.
Was das Buch, erschienen im Verlag Klöpfer & Meyer, neben seinen Berichten über außergewöhnliche Menschen, ihre Schicksale und ihre Träume so lesenswert macht, ist die Perspektive und ist der Erzählton. Die Geschichten sind sämtlich aus der Perspektive eines Beteiligten in der psychiatrischen Klinik geschrieben. In der ersten Erzählung ist es Kaisja, wobei offen bleibt, wie krank sie ist, der Erzählton aber suggeriert zumindest eine nicht zu hohe Intelligenz.
“Mich interessiert wie Menschen in einer anderen Welt reagieren“, erzählt Michael Lichtwarck-Aschoff. Der Autor ist Intensivmediziner, noch immer in Forschung und Lehre tätig, aber seit er nicht mehr praktiziert, hat er sich dem Schreiben gewidmet.
Schwäbischer Literaturpreis
Vor fünf Jahren bereits wurde eine Erzählung in eine Anthologie aufgenommen und vor zwei Jahren erhielt er den Schwäbischen Literaturpreis. Seine Arbeit als Intensivmediziner schlägt sich in seiner Art zu schreiben nieder. „Man muss genau hinschauen, Menschen genau beobachten“, sagt er.
Die Klammer, die alle vier Geschichten zusammenhält, ist das Kloster Schussenried. Nach der Säkularisation wurde es psychiatrische Anstalt und diente im Dritten Reich als Durchgangsstation für die Euthanasieanstalt Irrsee. Dieses Thema taucht in der ersten Geschichte auf, in der von einem Bus und grauen Männern die Rede ist, die Patienten abholen. Gustav Mesmer aber überlebte und wurde auch rehabilitiert.
Welt der Psychiatrie
Taucht man in die Erzählungen des Buches ein, ist man sofort gefesselt, gepackt und lässt sich hineinziehen in die andersartige Welt der Psychiatrie, in die Welt von Menschen, die einen Traum haben, vom Fliegen, vom Kartoffelanbau, vom Weltfrieden oder von der Mechanik eines Schachtürken. Man wird zum Zeugen des Geschehens, lässt sich vom Erzähler an die Hand nehmen und steht auf der Mauer, auf dem Kirchturm, schaut Gesche zu, wie sie ihre Knie bewegt oder wie Merle sich aus der Ahornkiste schält.