Sexueller Missbrauch

Sexueller Missbrauch in der Katholischen Kirche

Sexueller Missbrauch in der Katholischen Kirche. Foto: Wilfried Pohnke pixabay

Online-Vortrag

Einen tiefen und fundierten Einblick in das brisante Thema gab in einem Online-Vortrag des Katholischen Bildungswerkes im Landkreis Miesbach Heiner Keupp, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.

An diesem Abend gehe es weniger um die Krise der katholischen Kirche als vielmehr um das Leid, das Menschen erfahren haben, sagte Wolfgang Foit, Geschäftsführer des KBW Miesbach, zur Einführung. Die Frage, welche Ursachen und welche Veruracher das Leid habe und wie man es lindern könne.

Mit dem Sozialpsychologen Professor Heiner Keupp war ein Referent gewonnen worden, der seit Jahren intensiv mit der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche befasst und beteiligt an der Untersuchung der Missbrauchsfälle in den Benediktinerklöstern Ettal und Kremsmünster (Österreich) ist, sowie Mitverfasser einer wissenschaftlichen Studie über sexualisierte Gewalt an der Odenwaldschule war.

Heiner Keupp startete seinen Vortrag mit einem Zitat eines Opfers: „Der Zorn, den ich in mir hab‘, ist, dass das System so versagt hat.“ Diese Essenz wurde im Folgenden immer wieder deutlich, denn es geht um ein System, in dem Versetzung und Vertuschung an der Tagesordnung sind.

Sexueller Missbrauch
Sozialpsychologe Professor Heiner Keupp. Foto: privat

Die Aufarbeitung des Themas startete, so Heiner Keupp, im Jahr 2010 als Pater Mertes vom Canisiuskolleg seine erste Aussage machte, was einen Dominoeffekt bewirkte, in dessen Folge mit der MHG-Studie ein Forschungsprojekt von 2014 bis 2018 fast 40.000 Akten mit 1670 Beschuldigten bearbeitet. Es ergab bei 4,4 Prozent der Kleriker einen Hinweis auf sexuelle Übergriffe.

Aber, so betonte Heiner Keupp, gebe es zum einen ein Geheimarchiv und zum anderen sei die Dunkelziffer erheblich höher. „Es gab Hinweise, dass Akten vernichtet oder manipuliert wurden.“ Nach Schätzungen der Universitätsklinik Ulm gebe es in Deutschland etwa 114 000 Betroffene.

Versetzung statt kirchenrechtliche Verfahren

Alleinige Ursache für sexuelle Übergriffe sei weder Homosexualität noch der Zölibat, sagte der Referent, sondern ebenso sexuelle Unreife und die homophobe Umgebung in der Kirche. Die Folge von Missbrauchserfahrungen seien Ängste, Depressionen, Misstrauen, sexuelle Probleme, Kontaktschwierigkeiten und Probleme in der Beziehung und im Arbeitsleben.

Die Kirche habe auf die Vorwürfe mit Versetzungen reagiert, ohne indes die neue Stelle über die Vorgänge zu informieren, kirchenrechtliche Verfahren seien nur in einem Drittel der Fälle eingeleitet worden, auch die Meldung nach Rom unterblieb in zwei Dritteln der Fälle.

Respektvoller Umgang mit Betroffenen

Drei Grundmuster konnten bei den beschuldigten Klerikern ermittelt werden: den pädophilen, den narzistisch-soziopathischen und den unreifen Typus, dazu komme, dass in der Ausbildung zum Priester das Thema Sexualität fehle.

Aus der Kritik an der Studie, insbesondere, dass die Kooperation mit den Bistümern unbefriedigend und die Aktenführung defizitär war, was zu Vertuschung führte, folgte der Auftrag, eine Unabhängige Aufarbeitungskommission zu installieren, die 2018 ihre Arbeit aufnahm. Diese forderte einen respektvollen Umgang mit den Betroffenen ebenso wie die Überwindung täterschützender Strukturen.

Kirche und Staat tragen Verantwortung

Dabei, so betonte Heiner Keupp, stellte sich die Frage, ob die Kirche die alleinige Verantwortung trage oder aber, ob der Staat die Mitverantwortung übernehmen müsse, denn er habe delegiert und müsse deshalb nachfragen. Die Unabhängige Aufarbeitungskommission stellte sich die Aufgabe einer nachhaltigen Krisenbewältigung und einer neuen Kultur der Achtsamkeit.

Wie eine Bombe habe dann die Studie der Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW-Gutachten) im Januar 2022 eingeschlagen, in der Täter mit Namen genannt wurden, unter ihnen auch ein ehemaliger Papst. Von 363 Sachverhalten erwiesen sich 65 als erwiesen und 146 als plausibel. 497 Geschädigte im Alter von acht bis 14 Jahren wurden erfasst.

Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch

„Es ist erschreckend“, so schätzte Heiner Keupp ein, Kinder seien der menschenfeindlichen Haltung einer Priesterkaste ausgeliefert, der Empathie fehle und die durch Lieblosigkeit und Macht, sowie Abschottung nach außen wirke. Ein großes Risiko für die Heranwachsenden sei, dass der sexuelle Missbrauch oft mit spiritueller Gewalt einhergehe.

Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen sei emotionale Bedürftigkeit, Abhängigkeiten, Identitätskrisen, Sinnsuche, Zugehörigkeitswünsche und prekäre Lebensbedingungen.

Schmerzliche Last anerkennen

Die Kirche habe ihre Chance zu einer inneren Reform verpasst, konstatierte der Referent, aber auch der Staat habe als Wächter versagt. Es brauche auf Länderebene Einrichtungen, die diese Aufgabe wahrnehmen. Er zitierte einen Satz des Philosophen Theodor W. Adorno, der sagte, dass Aufarbeitung bedeute, die schmerzliche Last anzuerkennen und durchzuarbeiten, sonst verspiele man die Zukunftsfähigkeit. Dafür seien auch Erinnerungsorte, so wie in Kloster Ettal oder Kremsmünster notwendig.

„Gibt es Hoffnung?“ fragte Wolfgang Foit in der Diskussion. „Die Kirche allein wird es nicht packen“, entgegnete Heiner Keupp. Der entscheidende Schritt sei die Öffnung in die Zivilgesellschaft. Er sei optimistisch, dass man diesen gemeinsamen Prozess der Aufarbeitung hinbekomme. Er appellierte an die Bildungseinrichtungen, sich dieses Themas anzunehmen.

Zum Weiterlesen: „Fratelli tutti – eine Vision, die auf Umsetzung wartet

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