Noch mehr Blauer Reiter und viel zu lernen
Kunst aus der Blaue-Reiter-Gruppe? Jein. Gabriele Münter und Wassily Kandinsky sammelten Kinderkunstwerke, die nun auch im Lenbachhaus zu sehen sind. Foto: IW
Ausstellung in München
Wer nach der Ausstellung „Von Renoir bis Jawlensky“ in Tegernsee mehr über die Künstler und Künstlerinnen des Blauen Reiter erfahren möchte, kann beispielsweise in München im Lenbachhaus die Ausstellung „Gruppendynamik – Der Blaue Reiter“ besuchen. Und darüber hinaus anhand einer kritischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Themen, die die sowohl Kunstwelt als auch Gesellschaft prägen, viel lernen.
Als im Mai 1912 Wassily Kandinsky und Franz Marc das Almanach „Der Blaue Reiter“ veröffentlichten, zeigten sie anhand von Texten und Bildern internationaler Kunstschaffender eine umfassende Sammlung der Weltkunst. „Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und Völker, sondern die Menschheit“ – so die Idee. Die Ausstellung „Gruppendynamik – Der Blaue Reiter“ stellt nun die Verbindungen zwischen bayerischer und russischer Volkskunst, japanischen Holzschnitten, Kinderzeichnungen, zeitgenössischer Musik sowie den im Almanach abgebildeten Werken aus Bali, Gabun, Ozeanien, Sri Lanka, Mexiko und Ägypten dar.
Ausstellungsansicht „Gruppendynamik – Der Blaue Reiter“ im Lenbachhaus. Foto: Simone Gänsheimer.
Vision einer Gleichberechtigung der Kunst aller Völker
Nicht zuletzt thematisiert das Projekt „Gruppendynamik“ die Auswirkungen des europäischen Kolonialismus auf das Kunstverständnis des Blauen Reiter. Gefangen in der Mentalität des Hochimperialismus vor dem Ersten Weltkrieg gelang es auch seinen Mitgliedern nicht, eine emanzipatorische Auffassung von Kunstproduktion jenseits des europäischen Horizonts umzusetzen. Doch die Vision von einer Gleichberechtigung der Kunst aller Völker und Zeiten war wegweisend. Sie hat nichts von ihrem Anspruch verloren.
In der Sektion „Exotismus“: August Macke, Reitende beim Zelt, 1911, Foto: Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München.
Kritisches Interventionsglossar
Etwas Spannendes haben sich die Ausstellungsmacher außerdem einfallen lassen: Einen Kastenblock am Eingang zur Ausstellung mit farbigen A5-Karten, die ein „kritisches Interventionsglossar“ bieten – zum Mitnehmen beim Rundgang. Jeweils an den einzelnen Kunstwerken sind Icons mit Nummern notiert, die sich auf Begriffe aus dem diesem Glossar beziehen. Sie reichen beispielsweise von „Gender“ über das „I-Wort“, „Toxic masculinity“, „Weißsein“ oder „Eurozentrismus“ bis zu wissenswerten Themen der Kunstgeschichte wie der „Provenienzforschung“ oder der „Postkolonialen Theorie“. Zum Zuordnen kann sich jeder Gast, jede Besucherin selbst Gedanken machen, dabei das eigene Wissen prüfen und viel dazu lernen.
Lesetipp: Face-to-face-Gespräch zur Provenienzforschung im Olaf Gulbransson Museum
Von japanischen Ukiyo-e bis Hinterglasmalerei
Wer also die Ausstellung besucht, erfährt nicht nur viel über die Gruppendynamik innerhalb der Künstlergruppe des Blauen Reiter und die Themen, mit denen sich die Künstlerinnen und Künstler beschäftigte. Auch zur heutigen, zeitgenössischen Einordnung von Kunst und zum gesellschaftlichen Diskurs lässt sich viel mitnehmen. So sind die Ausstellungsräume thematisch geordnet: Von „Der Blaue Reiter Almanach – Das Buch“ geht es weiter zu „Hinterglasbilder und Ostasiatische Holzschnitte (von indischen und chinesischen Drucken bis japanischen Ukiyo-e), weiter zum „Exotismus“, zur „Volkskunst“ und zum „Eskapismus“, den die Blaue-Reiter-Gruppe mit ihrer Naturbegeisterung und dem Leben und Malen auf dem Land feierten.
Murnau, Sindelsdorf, Tegernsee
Spannend sind außerdem die „Kinderwelten“ mit Zeichnungen und Malerei von Kindern, die Gabriele Münter und Wassily Kandinsky als Inspirationsquelle nicht nur sammelten, sondern auch thematisch aufgriffen. Ihnen gegenübergestellt sind Werke der Mitglieder des Blauen Reiter im Stil von Kinderzeichnungen. Nach Ihrem Verständnis sollte die Entwicklung der Kunst „einfach“ beginnen – mit naiver Volkskunst und Kinderzeichnungen. Wobei die Gruppe – dem damals gängigen Denkmuster folgend – die Europäische Kunst an die Spitze der Pyramide setzte (was es anhand des „kritischen Interventionsglossars“ immer wieder zu überprüfen gilt).
Kinderwelten: Maria Franck-Marc, Mädchen mit Kleinkind, um 1913, erworben aus Privatbesitz 2019. Foto: © Rechtsnachfolge der Künstlerin
Über die „Musik“ geht es weiter zu den Musenorten „Murnau, Sindelsdorf, Tegernsee“ zur „Neuen Künstlervereinigung München“ und schließlich zu den damaligen Ausstellungen „Der Blaue Reiter“ in München. Insgesamt zwölf Themenbereiche durchläuft man innerhalb dieser umfassenden Ausstellung. Durch den Dialog zwischen bedeutenden Leihgaben und den vertrauten Sammlungsbildern eröffnen sich neue Perspektiven auf das Selbstverständnis des Blauen Reiter, ihre Inspirationsquellen, ihren Austausch, ihre Arbeitsweise.
Von Der Blaue Reiter zu Etel Adnan
Etel Adnan: Gewebter Wandteppich „Eclat de lumière“; Courtesy of the Estate Etel Adnan and Sfeir-Semler Gallery Beirut/Hamburg © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Wer danach noch Muse hat und einem Kontrast nicht abgeneigt ist, besucht in der zum Lenbachhaus gehörenden Kunsthalle die Ausstellung mit Werken von Etel Adnan (1925–2021), einer bedeutenden Vertreterin der Moderne. Das Werk der Dichterin, Malerin, Journalistin und Philosophin, die ihr Leben zwischen dem Libanon, Frankreich und Kalifornien verbrachte, verbindet ganz unterschiedliche Kunstformen, Medien, Sprachen und Kulturen. Von der Teppichweberei war sie bereits während ihre Studiums in Paris beeindruckt.