Schreibwerkstatt – Rad im Schnee

Zum Foto „Rad im Schnee“ schrieben die Mitglieder der Schreibwerkstatt. Foto: Salzburger Nachrichten

Schreibwerkstatt

Das Schneechaos in der vergangenen Woche hat zwar auch die Schreibwerkstatt von KulturVision e.V. lahm gelegt, jedoch haben die Mitglieder einen passenden Text dazu. Ein Foto diente der Gruppe von Schreibbegeisterten als Inspirationsquelle: ein Rad im Schnee. Angekettet. Irgendwo achtlos zurückgelassen. Ein paar der literarischen Ergebnisse präsentieren wir heute.

In regelmäßigen Abständen trifft sich die Gruppe von Schreibbegeisterten seit vergangenem Jahr wieder. Als Heimat dient dabei meistens das schöne Bürgergewölbe der Gemeinde Weyarn. Dort werden die Texte vorgelesen, besprochen und vor allem viel Inspiration für weitere literarische Ergüsse gesammelt. Im kommenden Jahr möchte die Gruppe nun auch ihre erste Lesung veranstalten. Als kleinen Vorgeschmack, präsentieren einige Mitglieder hier ihre Ergebnisse zu einem besonderen Schreibimpuls.

Lesetipp: Debütroman von Christine Rummel

Das Foto vom „Rad im Schnee“ diente den Mitgliedern als Vorlage für ihre eigene Geschichte. Mitglied Isabella Krobisch hatte es in den Salzburger Nachrichten unter der Rubrik „BILDsprache“ entdeckt. Sehr unterschiedliche Texte kamen dabei wieder zustande. Da sich alle Geschichten um das selbe Bild ranken, lockern winterliche Impressionen aus der Heimat der Schreibwerkstatt in Weyarn von Selina Benda diesen heutigen besonderen Artikel auf. Tipp der Redaktion: Diese Seite am besten abspeichern oder ausdrucken und eine Geschichte nach der anderen Lesen.

Die Vergessenen

Von Ilka Walter

Da stehst du, niemand sieht dich, sie laufen an dir vorbei, sie nehmen dich nicht wahr. Die Kälte kriecht an dir hoch, ein Teil von dir, verliert sich schon im kalten Weiß, irgendwo im nirgendwo. Einst hast du zu jemanden gehört, doch sie sind gegangen, haben dich vergessen, ihr Herz verschlossen.
…aber dein Herz war so offen, das Leben für dich ein buntes, großes Fragezeichen, die Augen groß…aber manchmal merkt man schnell, der ist anders, der Gang ist nicht so gefällig, die Klingel etwas leiser, das Modell etwas spezieller und eh man sich versieht, ist der Lack ab und du wirst abgehängt.

Anders zu sein bedeutet nicht gleich zu sein, es stört die Gleichen, es irritiert, wirft Fragen auf, die sie sich nicht stellen wollen, es kostet Zeit und Zeit ist kostbar, besonders für die, die sie noch reichlich haben. Wird sie knapp, fragt man sich, was hab ich nur mit ihr gemacht?

Fragt sich, da war doch mal jemand, der war so anders, warum hab ich nicht mehr Zeit mit ihm verbracht? Es war schön mit ihm, seine Gangart einzigartig, seine Wege speziell, was hätte ich mit ihm gesehen? Ja, warum, warum nur, hab ich ihn damals vergessen?

Der Verlorene

Von Isabella Krobisch

Es hieß er sei für drei Tage nach Brixen gefahren. Am 30. November 2022 sah ihn eine seiner Nachbarinnen am Bahnhof Miesbach auf Gleis 2 in den Zug steigen. Einen prall gefüllten Seesack mit der Aufschrift „High life“ über der Schulter. Als er sich am Fahrkartenschalter umdrehte hätte er mit seinem ausladenden Gepäck beinahe Konrad, den Chemieprofessor, der wie immer mittwochs unterwegs war in sein Münchner Labor, niedergestreckt. Diese Szene, von einer Schülergruppe beobachtet, die zufällig nicht auf ihre Handys starrte, war das letzte Lebenszeichen von Arthur Bergmann.

Nach dem letzten Wintereinbruch, kurz nach Ostern, erhielt der städtische Bauhof vom Bürgermeister, bei dem schon mehrere Beschwerden eingegangen waren, den Auftrag, Arthurs Fahrrad vom Stützpfeiler vor dem SB-Bereich der Sparkasse zu lösen. Es war nicht wie andere weit weniger kostbare Drahtesel unter dem Schnee mit verbogenen Speichen, demontiertem Sattel oder fehlendem Hinterrad wieder aufgetaucht, sondern stand völlig unversehrt am Rande des vielbefahrenen Kreisels der Kreisstadt.

Die Bauhofmitarbeiter brachten die Fundsache zu den übrigen Gegenständen des Fundamtes im Kellergeschoss des Rathauses. Weil sich trotz Aufrufs in den Miesbacher Stadtnachrichten niemand meldete, der Anspruch auf das Fahrrad erhob, wurde es ein Jahr später zugunsten des Inklusionsspielplatzes versteigert. Ermittlungen der Kriminalpolizei ergaben, dass sich Arthur Bergmanns Spuren am Hauptbahnhof in München verloren.

Die Gedanken

Von Silvia Brandmaier

Was denkt ein Fahrrad, das vom Schnee überrascht wurde? Am Abend angekettet, wohl verwahrt, am Morgen bis zur Kette in weißer, kalter Umarmung. Fragt es sich, was passiert ist? Was das ist um es her? Weiß und doch kein Salz. Kalt und nass und doch kein Regen? Fein und doch kein Nebel? Warum die Welt plötzlich so anders aussieht? Die Dächer Mützen tragen und die Bäume Mäntel? Sorgt es sich um seine Kette, seine Speichen? Dass sie rosten könnten? Dass seine Reifen festfrieren am Boden?

Oder dass es sogar vergessen wird, weil sein Besitzer es am Abend zufällig irgendwo angeschlossen hat? Vielleicht im Suff? Dass es da stehen bleiben muss, Tage und Wochen, bis sein Besitzer zufällig vorbeigeht und sich denkt: Ach, Mensch, das ist doch mein Fahrrad! Hier habe ich es gelassen! Auf welcher Party war ich denn hier? Hier wohnt doch gar niemand, den ich kenne.

Oder hat es schon immer mal davon geträumt, dieses watteweiche Deckbett kennenzulernen, dass es in der Ferne auf den Bergen und in der Nähe auf den Wiesen gesehen hat? So schön licht und strahlend. So elegant überall verteilt. Die Kinder jauchzen und bauen Schneemänner und werfen mit Schneebällen. Manchmal ziehen sie sogar einen Schlitten hinter sich her, auf den sie sich am Hang werfen. Aber das Fahrrad durfte nie mitmachen. Konnte nur von weitem zuschauen, wie viel Spaß dieses seltsame Etwas macht.

Durch das Fenster des Schuppens und manchmal, wenn die Straßen wieder frei waren, am Rand seiner Wege. Es sah so herrlich aus, gemütlich, flauschig, sanft. Doch jetzt, in der Berührung, in seiner Umarmung, ist es kalt und schwer und nass. Wer hat sich das ausgedacht? Vielleicht hat es ja schon immer davon geträumt, auch einmal dahinzuschlittern. Sich gefragt, ob es nicht auch dahingleiten könnte, schwerelos wie ein Vogel. Schwerelos über die Erde fliegen wie ein Schmetterling. Ob es wohl dafür gebaut ist?

Am liebsten würde es einen Detektiv engagieren, der herausfinden soll, wer das Fahrrad hier vergessen hat und warum. Der Fingerabdrücke sichert, mit schwarzem Pulver und Klebeband. Und dann feststellen muss, dass viel zu viele Leute das Fahrrad angefasst haben. Alle haben sich gewundert, was es hier im Schnee macht. Dann könnte es seinen Besitzer ausfindig machen und wieder gemütlich ins Warme. Oder zumindest in den Schuppen, wo kein Schnee und kein Salz den Rost hervorkitzelt.

Lesetipp: Das Jahr von KulturVision

Sogar ein Fahrraddieb war schon da, der es stehlen und verkaufen wollte. Der aber am Schloss gescheitert ist und keine Metallsäge dabei hatte. Der hat sich vielleicht geärgert! Ausgerechnet heute lässt einer sein Fahrrad stehen, im Schnee, wo er keine Säge dabei hat. Dabei hat er sich extra eine kleine, unauffällige angeschafft, die man leicht in die Tasche stecken kann. Aber das Fahrrad war doch froh. Dem Diebstahl zu entrinnen und hoffentlich wieder abgeholt zu werden. Wer weiß denn schon, was so ein Dieb mit ihm macht und ob es in gute Hände kommt. Lieber wartet es eine Weile auf seinen Besitzer. Und kommt dann ins Warme.

Das Ehepaar

Von Josef Poschenrieder / gekürzte Fassung

Bei unserem Spaziergang durch das verschneite und verschlafene Hinterbrunzen kamen wir an einem eingeschneiten Fahrrad vorbei. Kurz hegte ich die Hoffnung, dass meine Frau es nicht sieht oder wenigstens nicht bewusst wahrnimmt. Diese Hoffnung zerrann, kaum dass sie aufgekommen war. „Schau mal, das Rad. Das ist ja völlig eingeschneit.“ Immer diese Übertreibungen. „Völlig eingeschneit ist es nicht“, erwidere ich. „Höchstens halb. Genau gesagt, bis zu den Radnaben.“ Das brachte mir einen ersten missbilligenden Blick von meinem Engelchen ein. Selbst wenn sie Unfug redet – kritisiert werden mag sie nicht.

Aber was soll ich machen? Es ist nicht völlig eingeschneit, leider, denn dann hätte sie es übersehen. Hat sie aber nicht. Zum völligen Einschneien hätte der Schnee noch einen Meter höher sein müssen – war er aber nicht. Mir fallen die zwei massiven Ketten auf, aber die scheinen mit dem Rad nichts zu tun zu haben. Sie sind fast gestrafft und spannen sich von dem Hydranten links und rechts auf den Boden. Von der Bodenverankerung sieht man im Schnee allerdings nichts.

Irgendjemand hat den Hydranten bombig verankert, vielleicht damit er nicht wegfliegt. Vielleicht auch, dass man schwere Gegenstände hinlehnen kann. Immerhin lehnt ja das Rad dort. Wären die Ketten nicht zum Halten des Hydranten abkommandiert worden, hätten sie die Ankerkette eines Hochseetrawlers werden können. Schwer und stabil. Die Ketten finde ich viel spannender als das Radl. Ich wüsste gern, was es mit ihnen auf sich hat, warum man derart robuste genommen hat. Oder waren die grad übrig? Wovon?

„Da hat einer sein Rad vergessen“, reißt mich meine Frau aus den Gedanken. „Die Ketten sind sehr massiv.“ „Ich red vom Radl.“ Ich weiß, es wird erwartet, dass ich was sage. Voilà! „Es ist ein Mountainbike“, sage ich sachkundig. „Und die Ketten sind wirklich massiv.“ Meine Frau nimmt den Faden auf: „Ja, und wie kommt es da hin?“ „Im Tierpark haben sie solche Ketten. Damit hängen sie Elefanten an.“ „Wie kommt das Radl da hin?“ „Elefantenspuren seh ich nicht.“

„Josef! Wie kommt das Rad da hin?“ Auf meine Überlegungen geht sie überhaupt nicht ein. „Dahin oder daher, es gibt mehrere Möglichkeiten. Entweder der Besitzer weiß, wo sein Radl steht – oder nicht. Wenn er es weiß oder gewusst hat, dann hat er es vielleicht vergessen, schnell einsetzende Demenz, eine ganz gefährliche Krankheit. Hat unser Bundeskanzler manchmal, wenn er zu Cum-ex gefragt wird. Oder der Radlfahrer liegt im Krankenhaus und konnte es nicht holen, vielleicht ist er tot.“ „Musst du immer das Schlimmste denken? Sei doch nicht immer so negativ!“

Lesetipp: Literatur im Fokus

Meine Frau schaute mich kurz von der Seite an – nach dem Motto: Was für ein Unsinn kommt jetzt? Oder vielleicht was Vernünftiges? Ich biete als Lösung an: „Das Wahrscheinlichste ist, dass es gestohlen wurde, und der Dieb hat es dort abgestellt.“ „Warum stiehlt er es dann, wenn er es nicht behält?“ „Ich kann mich in einen Dieb nicht hineinfühlen. Aber vielleicht ist er damit heimgefahren und hat es kurz vor zu Hause abgestellt, weil im Haus niemand das geklaute Radl sehen darf.

Das heißt, er wohnt in der Umgebung und hat kein Auto. Wer diese Kriterien erfüllt, ist hoch verdächtig. Es ist ein Herrenrad, also ist der Dieb vermutlich männlich. Das engt den Kreis der Verdächtigen nochmal um die Hälfte ein.“ Jetzt konnte sie mit ihrer Beobachtungsgabe trumpfen: „Ich glaube nicht, dass es gestohlen wurde. Es ist ja mit einem Seilschloss am Hydranten fixiert.“

„Gut beobachtet! Also nicht gestohlen, und wir haben keine Verdächtigen. Ergo geht die Recherche von vorn los. Was haben wir denn noch außer den Ketten? Das ganze Zubehör ist noch dran, sogar der Fahrradcomputer. Also steht es noch nicht lang. Die Zeitgenossen mit dem flexiblen Eigentumsbegriff sind bei so einem Sauwetter nicht gern unterwegs.

Geschneit hat es gestern, also steht es maximal zwei Tage. Dann vermute ich doch, dass es jemandem gehört, der gehindert wird, das Rad zu holen. Vielleicht ist er ausgerutscht und hat sich einen Haxen gebrochen.“ „Das arme Rad.“ Weiter sagt sie nichts. Das heißt, sie denkt entweder nach, wobei ich nie weiß, ob sie über das nachdenkt, was ich sage, oder über etwas ganz anderes. Oder sie überlegt, was sie in meine Aussagen hineininterpretieren kann, das gar nicht drin ist.

Veranstaltungstipp Schreibwerkstatt im Januar

Ich fahre fort: „Dem Sattel nach ist es jemand, der viel fährt. Mit Sicherheit ein Mann. Eine Frau würde sich weigern, sich auf so einen Untersatz zu setzen. Die mögen lieber breitere, gepolsterte, die sich dem weiblichen verlängerten Rücken anschmiegen. Der da, das ist fast ein Rennsattel, der auf den Nervus pudendus drückt. Der macht nach längeren Fahrten eine anhaltende Pelzigkeit im Genitalbereich.

Meistens merkt man das erst beim Absteigen. Manchen gefällt das, vor allem, wenn der Nerv wieder Blut bekommt und die Pelzigkeit weggeht, dann kribbelt da unten alles und es stellt sich eine anhaltende Erektion ein. Viele Radler sind ganz scharf darauf. Gesund ist das aber nicht, das hat man herausgefunden. Solche Sättel sind schuld, wenn Radler impotent werden.“

„Spricht der Mediziner“, sagte sie lapidar. „Sportlicher Fahrer ist gut möglich. Breite Stollenreifen, keine Gepäcktaschen. Zum Einkaufen wird das Rad nicht benutzt.“ Dann platzt sie raus. „Das ist so ein gschlamperts Mannsbild, der sich um sein Radl nicht kümmert. Wahrscheinlich weiß er nimmer, wo er das Radl stehenlassen hat.“ Ihr weiblicher Helferinstinkt erwacht. „Was meinst, sollen wir was unternehmen?“ „Als erstes müssen wir den Schnee ausgraben und schauen, ob ein Toter darunter liegt.“ „Depp.“

In diesem Moment hält ein kleiner LKW. Zwei rustikale städtische Arbeiter steigen behäbig aus und gehen zielstrebig zum Rad. Einer kramt in seiner Hosentasche. Tatsächlich, er hat den Schlüssel dabei und schließt das Seilschloss auf. Der andere zieht das Radl aus dem Schnee und lässt es ein paarmal unsanft auf die Straße prellen, um den Schnee abzuschütteln. Dann schmeißen sie es rüde auf die Pritsche ihres Kommunalfahrzeugs. Interessiert schauen wir zu und fangen Gesprächsfetzen auf. Wir erheischen Einblicke in kommunale Phänomene und Mysterien. „Guat dass der Burgamoasta des Radl steh lossn hod – bei dem Dampf, den der ghabt hod. Darenna häd er si kinna.“ „An Lappen hams eam eh scho zwickt.“

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