Wendelstein, Wandelstein
Der Wendelstein: Gemalt von der gebürtigen Bayrischzellerin Nele von Mengershausen, musikalisch heraufbeschworen von der japanischen Pianistin Masako Ohta und der georgischen Violinistin Anna Kakutia. Foto: IH
An diesem Abend trafen Worte auf Bilder und Bilder auf Musik: „Das einzig Beständige ist der Wandel“ heißt das audiovisuelle Projekt der Künstlerin Nele von Mengershausen, der Pianistin Masako Ohta und der Violinistin Anna Kakutia, das am 24. Oktober seine Uraufführung im Tannerhof hatte.
Uraufführung in Bayrischzell
„Bitte nicht zwischendurch klatschen!“
Es war das erklärte Ziel des Abends, „eine Stimmung aufzubauen“, mithin die Hoffnung, eine so dichte Atmosphäre zu schaffen, dass die sieben Kapitel des Programms, somit auch die Instrumentalstücke sieben verschiedener Komponisten, zu einem großen Ganzen geeint würden: Den Kapiteln „Wege“, „Steine“, „Hokusai“, „Nebel“, „Berge und Wasser“, „Licht und Schatten“ und „Himmelrichtungen“ wurde je ein Werk der Komponisten Nikolas Brass, Kengyo Yatsuhashi, Claude Debussy, Peter Kiesewetter, Arvo Pärt, W. A. Mozart und J. S. Bach zugewiesen. Deshalb hieß es gleich zu Anfang: „Bitte nicht zwischendurch klatschen!“
Und in der Tat wäre das bedächtige, sich verdichtende Werden dieses Gesamtkunstwerks aus Lesung, Konzert und Bildprojektion durch einen siebenmal aufwallenden Applaus gestört worden. Drum behielten wir unsere Hände gern auf dem Schoß: Anfangs noch allein der ausdrücklichen Bitte wegen, später sicherlich auch ein wenig aus Ehrfurcht vor dem, was wir da zu hören und sehen kriegten. Die erhoffte Stimmung, ein gemeinsam wachsames Aufmerken und Innehalten, eine regelrechte Kontemplation, hatte uns schließlich alle ergriffen.
Ein „Kultursprungabend“ im Großen Saal des Naturhotels Tannerhof: Micol Krause, Programmleiterin der HOFKULTUR im Tannerhof und 2. Vorständin im Kultursprung e.V., und 1. Vorstand Burkhard Niesel (r.) begrüßen das Publikum. Nele von Mengershausen hatte den Verein vor 20 Jahren gegründet. Foto: IH
Sehende Ohren
Ausgangspunkt des Abends war Nele von Mengershausens Künstlerbuch „Wendelstein – Eine Hommage“. Aus diesem bemerkenswerten Buch, das von dem Meisterwerk „Hundert Ansichten des Berges Fuji“ des japanischen Holzschnittkünstlers Hokusai inspiriert ist, wurden ausgewählte Bilder großflächig im Hintergrund der beiden Musizierenden projiziert. Vor der leuchtend hellen Leinwand wurden die Körper von Anna Kakutia und Masako Ohta zu scherenschnittartigen, um nicht zu sagen holzschnittartigen, schwarzen Schemen.
Kapitel „Nebel“: Die Violinistin Anna Kakutia und die Pianistin Masako Ohta, vor der hellen Leinwand nur noch schemenhaft zu erkennen, spielen das Stück „Hed“, eine Sonate für Violine und Klavier des zeitgenössischen Komponisten Peter Kiesewetter, mit dem Kakutia regelmäßig zusammenarbeitet. Foto: IH
Dass sie dadurch den Zuschauern bisweilen ganz aus dem Blick schwanden, war sicher gewollt. Denn was man hörte, sollte dem, was man auf der Leinwand sah, dienen, und zwar nicht als einseitig „kitschige Illustration“, sondern als wechselseitige Begünstigung: So gab das Bild der Musik eine bespielbare Ausdrucksfläche, auf der sich der Klang gleichsam sichtbar absetzte, als würden die gehörten Töne die gemalten Striche nachvollziehen oder gar insgeheim mitgestalten. Die Musik wiederum verlieh dem Bild eine unergründliche Tiefe, die das Sichtbare ins Unsichtbare, ins nur noch Hörbare fortsetzte.
Dabei verschob und verwob sich auch die sinnliche Wahrnehmung des Publikums, die an diesem Abend Zuhörer und Zuschauer zugleich waren: Es galt, „ein sehendes Ohr“ zu entwickeln, so der Leitgedanke der drei Kunstschaffenden. Dahingehend wurde diese Uraufführung zum gewissen Grad auch zu einem Experiment mit dem Publikum, das sich mit allen Sinnen darauf einließ.
Kapitel „Wege“: Vor jedem neuen Kapitel liest Nele von Mengershausen (r.) ein paar Zeilen aus ihrem Wendelstein-Buch vor, dazu schreibt Masako Ohta das entsprechende (Kapitel-) Wort in japanischer Kalligraphie auf ein sogenanntes Buddha Board, auf dem die mit Wasser geschriebenen Zeichen allmählich wieder verdunsteten… – auch da das einzig Beständige der Wandel. Foto: IH
Wandelstein
Der Berg Wendelstein besteht aus Kalkstein. Und so wurden beim „Steine“-Kapitel drei kleine „Packerlsteine“, wie Nele von Mengershausen die „tiefgefurchten, wie zu Paketen geschnürten Steinformationen“ des Kalkgesteins nennt, im Publikum herumgereicht. Ins Spiel der Sinne trat nun also der Tastsinn noch ein, der sich die tiefen Furchen im Stein, die der Sehsinn bereits über den visuellen Nachvollzug der (projizierten) gezeichneten Linien verinnerlicht hatte, unterdessen mittels abtastendender Fingerkuppen taktil einprägen konnte.
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Dazu spielte Masako Ohta ein Koto-Stück von Kengyo Yatsuhashi, welche die Pianistin aus ihrer ursprünglichen Notation für Klavier übertragen hatte. Sodann bekamen die steinernen Furchen durch die mäandernde Musik etwas beinahe Flüssiges, Fließendes, einem Rinnsal gleich. Der Wandel, der schon im Titel der Veranstaltung angeklungen war („Das einzig Beständige…“), wurde hier zur erlebbaren, stetigen Verwandlung des sinnlich Wahrnehmbaren – und ließ mich unwillkürlich an den Namensursprung des Wendelsteins, an die Wendelstein-Legende denken.
Die Idee zur Zusammenarbeit entstand 2021, als Nele von Mengershausen (m.) den beiden Musikerinnen Anna Kakutia (l.) und Masako Ohta (r.) ihr Künstlerbuch „Wendelstein – Eine Hommage“ zeigte. Foto: IH
Der Sage nach beherbergte der Berg Wendelstein einst Schätze von unermesslichem Wert, darunter Gold und Eisenerz. Diese Schätze wurden jedoch von guten Berggeistern bewacht, welche nur den freundlichen Almleuten etwas davon abgaben. Eines Tages aber machten sich gierige, niederträchtige Leute aus dem Tal daran, die Schätze zu stehlen. Doch als sie am Berg ankamen, fanden sie in seinen Höhlen anstelle von Gold und Eisenerz nur Kalkgestein vor. Dank dieser Verwandlung der Steine, dem Wandel des Gesteins, soll dieser Berg fortan den Namen „Wendelstein“ bekommen haben…
Von denen, die diesen außergewöhnlichen Abend im Tannerhof miterleben durften, hätten sicher nicht wenige spontan viel Geld darauf verwettet, dass an jenem Abend aus so manchem „Packerlstein“ in den Wendelsteinhöhlen wieder ein Goldstück geworden ist.