Plastik, der Schrecken der Meere
Urmel Saurle (l.i.B.), der die Diskussion zum Film PLASTIC FANTASTIC moderierte, neben FoolsKINO-Betreiber Thomas Modlinger. Foto: Isabella Heller
Kino in Holzkirchen
Einen Tag vor Beginn des UN-„Plastikgipfels“ in Südkorea zeigte das FoolsKINO Holzkirchen im Rahmen der anders wachsen-Initiative von KulturVision e.V. den Film PLASTIC FANTASTIC (2023, Regie: Isa Willinger). In der anschließenden Publikumsdiskussion mit Urmel Saurle machte sich echte Empörung Luft.
Es ist ein Dokumentarfilm, der unter die Haut geht, und zwar wortwörtlich: Waren mir die Ausmaße der Plastikverschmutzung unserer Umwelt bereits größtenteils bewusst, so war ich mir bislang kaum darüber im Klaren, in welchem Maße Plastikmüll auch in unsere Körper gelangt. Unzählige Plastikpartikel, sogenanntes Mikro- und Nanoplastik, findet tagtäglich seinen Weg in unseren Organismus. Sei es durch die Klamotten, die wir tragen, durch das Leitungswasser, das wir trinken und zum Kochen verwenden, oder durch die Luft, die wir minütlich einatmen.
Am betroffensten sind aber nach wie vor die Meere: „Es gibt 500-mal mehr Plastikpartikel in den Ozeanen als Sterne in unserer Galaxie“, erfährt man gleich zu Anfang des Films. Und doch, wenn es dem Menschen an den Kragen geht, scheint etwas in uns Egomanen unmittelbarer alarmiert zu sein als bei den abertausend Hiobsbotschaften, welche unsere Umwelt, die vom Menschen gepeinigte Natur, betreffen. In einem NDR-Interview vom Februar 2024 stoße ich auf eine Aussage der Regisseurin Isa Willinger, die meine, zugegeben misanthropische, These bestätigt: „Wir wissen erst seit einem Jahr, dass das Mikroplastik im Gehirn zu finden ist, dass es bis in die Zellen hineingeht und dass es dort Tumore bilden kann, also wirklich große Gesundheitsschäden mit sich bringt. Ich glaube, sobald die Dinge als Gesundheitsthema geframed werden, und nicht nur als Umweltthema, dann schrillen die Alarmglocken immer viel lauter bei den Leuten.“
„Es gibt 500-mal mehr Plastikpartikel in den Ozeanen…“: Rebecca Köhl, 2 Vorsitzende von KulturVision e.V., stimmt das Publikum vorab mit besagtem Filmzitat ein. Foto: Isabella Heller
Ich würde mich jedoch zu der Behauptung hinreißen lassen, dass denen, die den Film PLASTIC FANTASTIC gesehen haben, die grausamen und unvergesslichen Bilder plastikverwüsteter Landstriche…, dass denen die Alarmglocken von da an lauter im Gewissen schrillen.
Ein diskriminiertes Material?
Der Film begleitet seine Protagonisten bei ihrem Einsatz gegen die Plastikverschmutzung: Da sind zum einen Steven Feit, Anwalt einer gemeinnützigen Anwaltskanzlei für Umweltrecht (CIEL), und Sharon Lavigne, Mitbegründerin der Bürgerinitiative „No Formosa“, die sich gegen die Baupläne des Kunststoffherstellers „Formosa Plastics“ auflehnt; dann Ozeanografin Sarah Jeanne Royer, die an den Küsten Hawaiis in mühevoller Kleinstarbeit (Mikro-)Plastik aufsammelt und zu Forschungszwecken untersucht; und Fotojournalist bzw. Aktivist James Wakibia, der mit seiner Aktion #BanPlasticKE ein Verbot von Plastiktüten in Kenia bewirkte; sowie der deutsche Chemiker Michael Braungart, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, nach natürlichen, d.h. biologisch-abbaubaren, Alternativen zu Kunststoff zu suchen. Die Kamera (von Julian Krubasik und Felix Pflieger) folgt diesen Alltagshelden überall hin, sie ist so unermüdlich wie die, die für eine Welt ohne Plastik kämpfen.
Lesetipp: Aus Sicht einer Plastiktüte
Wären da noch die Vertreter der Plastikindustrie: Joshua Baca, Lobbyist des American Chemistry Council, und der deutsche „Cheflobbyist der Plastikhersteller“ Ingemar Bühler, zweifelsohne die Antagonisten in diesem Film. Sie werden beinahe ausnahmslos in ihren Büros gefilmt, meist sitzend; die Kamera befindet sich dabei offensichtlich auf einem Stativ. Bis auf Steven Feit, den man in seiner Anwaltskanzlei filmt, werden also äußerst dynamische Bilder derjenigen, die sich gegen Umweltverschmutzung einsetzen, statischen Aufnahmen derer gegenübergestellt, die – hier so sichtbar wie sprichwörtlich – auf ihrem Standpunkt beharren. Ein lascher Satz wie „Ich habe den Eindruck, dass Kunststoff als Material diskriminiert wird“ (Bühler) klingt daher umso zynischer, wenn er nur wenige Filmminuten später mit Szenen kunststoffüberschwemmter, reißender Flüsse konfrontiert wird.
Earnest people speaking earnestly
Es gibt eine Person in PLASTIC FANTASTIC, die eine Art Bindeglied dieser beiden unvereinbaren Welten darstellt: Lewis Freeman, einstiger Vize-Präsident der Society of Plastics Industries, der mittlerweile seinen eigenen damaligen Ansichten kritisch gegenübersteht. Er, der jahrzehntelang (1978-2001) Einblick hinter die Kulissen hatte, schildert im Interview mit Regisseurin Isa Willinger, wie Mitte der 80er-Jahre, als Plastikmüll zu einem gesellschaftlichen Thema wurde, viele Vertreter der Kunststoffindustrie „Recycling gegenüber skeptisch waren“ und stattdessen dazu übergingen, eine bessere Außendarstellung ihres Industriezweigs zu propagieren. So wurde in großem Stil in Werbung investiert und es zeigte sich: Das Image der Kunststoffindustrie verbesserte sich schlagartig. Als Freeman sich (vor laufender Kamera) einen heutigen Imagefilm der Kunststoffindustrie ansieht, schüttelt er den Kopf und murrt: „Alles dasselbe wie damals. Du kriegst keine Informationen. Das einzige, was du kriegst, sind ernste Menschen, die ernst reden [earnest people speaking earnestly].“
Wenn man sich fragen muss, wann man zuletzt im Kino war, ist es zu lange her: Kleinere Kinos wie das FoolsKINO ringen mehr denn je um ihre Existenz. Foto: Isabella Heller
Solche Strategien zum Aufpolieren eines getrübten Image werden seitens der Kunststoffindustrie nach wie vor gefahren; auch das macht der Dokumentarfilm PLASTIC FANTASTIC anschaulich: Gezeigt wird eine Lehrerfortbildung, in der dem Lehrpersonal einer Grundschule „Kunos Coole Kunststoff-Kiste“ vorgestellt wird, eine blaue Plastikkiste, die Experimente zum Thema Kunststoff beinhaltet. Schon 60.000 Koffer seien an Grundschulen verliehen worden, verkündet die Seminarleiterin stolz, die im Auftrag von PlasticsEurope Deutschland, dem Verband der deutschen Kunststofferzeuger, diese Kiste bundesweit promotet. Die „coole Kunststoff-Kiste“ ist das Primarstufenprogramm von PlasticsEurope Deutschland und laut ihrer Webseite „ein wichtiger Baustein zur naturwissenschaftlichen Bildung im Grundschulalter“. Ob es an der laufenden Kamera lag oder nicht: Etliche der gefilmten Seminarteilnehmer beäugten die Kiste mit unverhohlener Skepsis.
„Jedes Tun ist nicht vergeblich“
Die an den Film anschließende Diskussion im FoolsKINO wird von Pflanzenbauingenieur Urmel Saurle geleitet, dem Nachhaltigkeit seit jeher am Herzen liegt. So ist er unter anderem im Aufsichtsrat des Unverpacktladens in Holzkirchen und arbeitet als Wildnispädagoge mit Kindern und Jugendlichen. Seine Einstiegsfrage ist eine (absichtlich provokant gestellte) Meinungsumfrage, die an eine Debatte im soeben gesehenen Film anschließt: „Wer ist dafür, dass Plastik verboten wird? Also wer würde für ein sofortiges Verbot stimmen?“ Auch ich hebe meine Hand, wohl wissend, dass es eher der emotionale als der rationale Teil von mir ist, der mich dazu bewegt. Denn natürlich würden mit einer plötzlichen Zäsur umgehend neue Probleme auftauchen, beispielsweise im Gesundheitssektor, in dem Plastik nach wie vor eine wichtige Rolle zukommt.
Bis in die 1950er Jahre kamen wir ganz ohne Plastik aus, erinnert uns Urmel Saurle; erst nach 1953, als einem gewissen Hermann Staudinger der Nobelpreis „für seine Entdeckungen auf dem Gebiet der makromolekularen Chemie“ verliehen wurde, habe die Plastikproduktion in größerem Umfang beginnen können. (Staudinger gilt als der Begründer der Polymerchemie, d.h. der Kunststoffchemie). Wobei aus dem Publikum der berechtigte Hinweis kommt, dass auch die Vermehrung der Weltbevölkerung ihren Teil zur vermehrten Plastikproduktion beigetragen habe. (Zum Vergleich: 1955 lebten auf der Erde 2.758.315 Menschen, knapp siebzig Jahre später sind wir bei 8.067.008 [Quelle: pdwb]).
Urmel Saurle, ein „Tausendsassa“ (Rebecca Köhl), moderiert die Diskussion zum Film. Foto: Isabella Heller
Eine ältere Frau meldet sich zu Wort und erzählt, dass sie seit vielen Jahren freiwillig Müll sammelt: „Das tue ich für die Natur.“, sagt sie mit fester Stimme. Angesichts der Verschmutzung der Welt fühle sie sich aber zunehmend ohnmächtig: „Was will man da machen als einfacher Bürger? Was können wir als kleiner Verbraucher schon tun?“ Die Frau ist regelrecht den Tränen nahe. „Wer fühlt sich hier noch machtlos?“, fragt Urmel Saurle in die Runde der Anwesenden und viele erhobene Hände bekunden ihre Solidarität mit der Frau.
Dem jungen Moderator ist es allerdings ein Anliegen, zu vermitteln, dass das Tun des Einzelnen nicht unterschätzt werden solle: „Jedes einzelne Verhalten kann die Verhältnisse ändern, die wiederum unser Verhalten ändern können. Jedes Tun ist nicht vergeblich.“ Wobei es ihm ebenso wichtig ist, zu betonen, dass man das eigene Tun niemals als Vorwurf denen gegenüber formulieren dürfe, die (noch) nichts tun: „Druck erzeugt Gegendruck“, warnt Urmel Saurle und spricht sich dafür aus, jedem die Zeit zu geben, die er braucht.
Was bleibt… landet im Meer
Ob in Südkorea bis zum 1. Dezember ein Plastikabkommen ausgearbeitet wird, bei dem für die globale Kunststoffkrise eine echte Lösung gefunden wird, statt einem – für die Kunststoffindustrie rentablen und für die übrige Welt fatalen – Greenwashing neue Hintertüren offenzulassen? Was mich PLASTIC FANTASTIC nämlich nicht zuletzt gelehrt hat, ist ein noch kritischerer Blick auf die Kommunikationsstrategien bestimmter Industriezweige. So gibt es zum Beispiel im Internet einen durchaus seriös wirkenden Newsroom zu der Kunststoff-Thematik. Auf einer derartigen Webseite liest man dann, die allgemeine Plastik-Diskussion werde „überwiegend emotional von nur einigen wenigen geführt“. Der Newsroom Kunststoffverpackungen richte sich daher an das „Informationsbedürfnis aller Verbraucher und möchte durch Faktenwissen zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen“. Inwiefern man allerdings noch von einer Versachlichung der Diskussion sprechen kann, wenn hinter dem selbsternannten Newsroom die IK Industrievereinigung Kunststoffverpackungen e.V. steht, welche „als Branchenverband die Interessen der Hersteller von Kunststoffverpackungen und Folien in Deutschland und Europa“ vertritt, ist mehr als fraglich. Steht also außer Frage.
Und was ist überhaupt gewonnen, wenn eine Diskussion „versachlicht“ wird? Wer abstreitet, dass Emotion und sachliche Information gleichermaßen und mit gleichem Recht an öffentlichen Diskussionen teilhaben können, wer dem Gefühl unterstellt, von einer Anbindung an die Vernunft a priori abgeschnitten zu sein, der fürchtet wohl die Kräfte, insbesondere die Tatkraft, die Emotionen im Menschen freizusetzen vermögen. Der Dokumentarfilm PLASTIC FANTASTIC liefert auf alle Fälle jede Menge „Faktenwissen“. Wobei es sicher nicht nur mich im Kinosaal emotional getroffen hat, als wir im FoolsKINO auf großer Leinwand die Fakten lesen: Jede dritte Verpackung endet im Ozean. Das bedeutet, jede Minute landet eine LKW-Ladung Kunststoff im Meer.