Kindheit am Kuhschwanz von Egern
Ingrid Nowak liest aus ihren „Gschichten vom Kühzagl“. Foto: IW
Lesung am Tegernsee
Von Schwarzfischen bis Weihnachtssingen – am Samstag las Ingrid Nowak ihre G‘schichten vom Kühzagl im Museum Tegernseer Tal.
Der Vortragsraum war bereits dicht besetzt und weitere Stühle wurden hereingetragen – „Um Elf im Museum“ war am Samstag gut besucht. Das wertete Birgit Halmbacher, die Vorsitzende des Altertumsgauvereins, erfreut „als Zeichen der Anerkennung, und dass wir auch im Winter wahrgenommen werden“. Herzlich begrüßte sie die aus Eichenau angereiste Ingrid Nowak und ihre Familie im Museum Tegernseer Tal zu dieser besonderen Lesung – aus den Erinnerungen an eine unbeschwerte und aufregende Kindheit im Rottach-Egerner Ortsteil Kühzagl.
Birgit Halmbacher dankt Ingrid Nowak. Foto: IW
Wenn sie in München lese, müsse sie zunächst einmal erklären, was „Kühzagl“ bedeute und wo es läge. Das müsse sie hier nicht, denn der idyllische und früher mit einem Fußmarsch über fünf Kilometer sehr abgelegene Ortsteil war den Anwesenden wohlbekannt. Dass sie es dennoch in ihren eigenen, warmen Worten der Erinnerung tat, war nur einer der vielen schönen Momente, die Ingrid Nowak den Gästen ihrer Lesung schenkte. Kühzagl, so die rüstige 82-Jährige, bedeute Kuhschwanz, und der kleine Weiler sei dessen hinterstes Ende, weit weg vom damaligen Dorf Egern, der Schule und der Kirche. Dort wuchs Ingrid Nowak als einziges Mädchen unter sieben Buben auf – getragen von einer Gemeinschaft, die heute oftmals ihresgleichen sucht.
Zwischen Kriegsende und Wirtschaftswunder
Was sie in Kühzagl an aufregender Kindheit zwischen Ende des Zweiten Weltkrieges und Anfang des Wirtschaftswunders erlebte, schrieb sie auf Bitte ihrer Familie auf. „Die Geschichten sollten nicht nur den Kindern und Enkelkindern, sondern auch anderen Menschen Freude machen“, so der Gedanke. Und Ingrid Nowak schrieb. Herausgekommen sind kurzweilige, amüsante Geschichten und Anekdoten, augenzwinkernd und mit feinem Humor vorgetragen, manchmal mit erhobenem Zeigefinger die Erwachsenen imitierend, dann wieder spitzbübisch und keck in der Rolle des frei aufwachsenden Dirndls, das ein echter Lausbub war.
„Dass ich hier lesen darf, wo ich zu Hause bin“, so Ingrid Nowak bewegt, „ist für mich eine riesige Freude“. Gefreut haben sich auch die Gäste der Lesung, teilten viele doch ähnliche Erinnerungen, an den gemeinsamen Lehrer etwa, oder an das Leben auf dem Bauernhof in der damaligen Zeit im Allgemeinen.
„Mit einem Knall“, hob Ingrid Nowak zu erzählen und lesen an – „wie’s gewesen ist, wie der Krieg ausgegangen ist“. Der Knall war eine Bombe, die die Amerikaner nur 800 Meter vom Haus entfernt im Feld abwarfen. Der Trichter wurde von den Kindern, obwohl streng verboten, im Winter fleißig und heimlich als Eisrutsche benutzt. Und bereits mit diesem Einstieg war schnell klar, dass Ludwig Thoma zwar schöne Lausbubengeschichten zu erzählen gewusst hatte, aber die Kühzaglerin nicht minder lustige Lausdirndlgeschichten.
Schelmisch und verschwörerisch
Auch viele weitere Verbote wurden von der Kühzagler Kinderschar schelmisch umgangen, allem voran das Schwarzfischen. Das zählte zu den schönsten, herrlichen, verbotenen Abenteuern. Davon wusste Ingrid Nowak gleich mehrere Geschichten verschwörerisch zu erzählen. Von den Forellen auf der Schultreppe beispielsweise und dem Verhör des Polizisten, dem die Kinder standhielten, indem sie ihm mit treuherzigem Blick Lügen auftischen. Und dieser, obschon er sie durchschaute, sie ungeschoren davonkommen ließ. Mit schönem, weichem Kuhmist strichen sie dem zuagroaßten Münchner Nachbarn daraufhin das zugebundene Gartentörl ein – als Vergeltung für’s Verpfeifen.
Freiheit, das wird schnell klar, war höchstes Gut jener Kindertage am Kühzagl. Wenn die Mutter als Bilanzbuchhalterin bei der Arbeit war, wurden mit bloßen Händen fleißig im selbst aufgestauten Bach Forellen gefangen, in der Küche gebraten und verspeist. Die erste Begegnung mit den Amerikanern, die den verängstigten Kriegswitwen nichts Böses wollen, nur ein heißes Bad, und den Kindern Schokolade schenken, nach denen sich Ingrid Nowak noch heute die Lippen leckt, war eine weitere der vielen Episoden, die alle mit schmunzeln ließen.
Kriegspferde und Katze „Schecki“
Ein großes Kinderherz, das die 82-Jährige heute noch in sich trägt, wird in allen Geschichten sichtbar. Ebenso wie die Liebe zur Natur und allem Lebendigen: das Mitgefühl für die traumatisierten Kriegspferde etwa, aber auch für die Katze Schecki, welche der Bertl aufopferungsvoll rettet, obwohl es doch vor Katzen wimmelt auf den Höfen. Das Bild der Nachkriegszeit in ihrer Erinnerung ist von Zusammenhalt zwischen Kindern und Erwachsenen, Familie und Nachbarn, Mensch und Tier geprägt. Fest steht, Ingrid Nowaks Kindheit am Kühzagl stand der eines Michels in Lönneberga um nichts nach.
Als Duo unterstützten Franz Halmbacher und Sepp Hornsteiner die Lesung Ingrid Nowaks. Foto: IW
Auch die Freude am Singen hat sich Ingrid Nowak bewahrt. Einst sang sie als Kind in der Kirche und noch immer sind die Lieder eng mit schönen Erinnerungen verknüpft. Daher fackelte sie nicht lange, fragte das Publikum, kenn ihr dieses oder jenes Lied? – und hob auch gleich zu singen an, und die Gäste sangen gern mit. Geteilte Kindheitserinnerungen sind doppelt schön und lebendig.
Erzählungen aus direkter Überlieferung
Heuernte und Almabtrieb, Schwarzfischen und Wildern, kleine Streiche und schlechtes Gewissen, glänzende Kinderaugen beim Weihnachtsfest, drückender Kummer, geteilter Schmerz, gemeinsame Mahlzeiten aller – oft fanden sich die Gäste der Lesung in ihren eigenen Erinnerungen wieder. Das ist der Zauber, der Erzählungen aus direkter Überlieferung innewohnt. Deshalb ermunterte Birgit Halmbacher auch die Anwesenden dazu, die alten Geschichten zu sammeln, zu bewahren und vielleicht ebenfalls im Rahmen des Museums zu lesen.
Das Duo Franz Halmbacher und Sepp Hornsteiner untermalte die reiche Lebensgeschichte Ingrid Nowaks so musikalisch virtuos wie feinfühlig. Beim Hinausgehen schüttelte die Autorin die Hände begeisterter Zeitzeugen, denen sie aus dem Herzen gelesen hatte. Und es hätte sicher noch viele weitere Geschichten gegeben – im Austausch.
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