Zeit ist Leben
Weg von der „Zeit ist Geld“-Logik hin zu „Zeit ist Leben“. Foto: MZ
Lesetipp der Redaktion
Der herrschenden „Zeit ist Geld“-Logik stellt das neue Buch „Alles eine Frage der Zeit“ einem Aufruf zu „Zeit ist Leben“ entgegen. Ein Zeitforscher, ein Physiker und ein Zeitberater betrachten den Begriff der Zeit aus der Sorge um die Zukunft des Planeten und verraten, was Zeitvielfalt und Zeitkultur ist.
Was haben unsere ökosozialen Probleme mit der Zeit zu tun? fragen die drei Autoren Karlheinz A. Geißler, Harald Lesch und Jonas Geißler im Vorwort des soeben erschienenen Buches. Sehr viel, antworten sie, aber leider werde im Zusammenhang mit diesen Problemen entweder in die Vergangenheit oder die drohende Zukunft geschaut. Viel wichtiger aber sei der Blick in unsere aktuelle Lebensweise.
Zeitumstellung?
Diese, geprägt von Hektik, Zeitnot und Multitasking, setzt Zeit gleich Uhr gleich Geld. Dies drückt sich, so sagt Zeitforscher Karlheinz A. Geißler, beispielsweise auch in dem Begriff „Zeitumstellung“, die am kommenden Wochenende laut öffentlicher Meinung stattfindet, aus. Falsch, meint er, wir stellen nur die Uhr, dieses mechanische Räderwerk um, die Zeit lässt sich weder umstellen, noch generell beherrschen. Sie ist da in Fülle. Die Frage ist wie wir mit ihr umgehen.
Professor Harald Lesch bei einem Vortrag in Korbinians Kolleg 2018 in Weissach. Foto: MZ
Zunächst aber steuert der Physiker Harald Lesch seine Sicht der Zeit bei, denn „unsere Zeit“ sei wie keine andere von ökologischen Krisen gezeichnet. Das liege daran, dass die Menschheit meine, Energie, Materie und Umwelt sei immer und überall verfügbar. In knapper Form weist der Wissenschaftler nach, dass dem eben nicht so ist. Der Energiehunger der Menschheit führe zur Klimakrise, wenn er nicht möglichst vollständig durch regenerative Energiequellen gedeckt werde. Er zeigt auch, dass die Digitalisierung einen erheblichen Beitrag zum Energieverbrauch beiträgt. Auch Ressourcenverbrauch, Klimakrise und Artensterben seien in dem Beschleunigungswahn der Menschheit begründet. „Die Rhythmen der Natur können diesem herrischen Takt nicht folgen“, schreibt Harald Lesch und folgert: „Sind all diese Krisen also vielleicht letztlich eine Frage der Zeit?“
Lesetipp: Interview Harald Lesch in der 31. Ausgabe der KulturBegegnungen
Die Zeit, so führt der Physiker aus, passe nicht in das Konzept der Physik, denn hier müsse alles immer reproduzierbar sein. Da aber die Zeit irreversibel ist, macht sie es den messenden Physikern schwer, sie lässt sich nicht zurückstellen. Und so spiele sie in der modernen Physik, in der die Dynamik von Systemen berücksichtigt werde, eine neue Rolle. Die Physik der Komplexität öffne den Weg für Spielräume.
Prof. Karlheinz A. Geißler. Foto: Petra Kurbjuhn
Und übergibt damit den Staffelstab an den Zeitexperten Karlheinz A. Geißler, der zeit seines Lebens davor warnt, Zeit gleich Uhr zu setzen. Es gebe viele Zeiten, sagt er, jedes System und jedes Individuum folge seinem eigenen Zeitmuster. Er fordert eine Neubetrachtung der Zeit in unser Handeln, sowohl ökonomisch als auch in unseren sozialen Beziehungen. Die mechanische Uhr führte zum Begriff der Effizienz als Gütesiegel. Folge, so schreibt er, Unbescheidenheit, Demutsverweigerung und Maßlosigkeit.
Uhrzeit ist leblose Zeit, sagt Karlheiz A. Geißler und erfrischt seine wissenschaftlichen Ausführungen immer wieder mit Episoden und Zitaten, etwa wenn er Uhrzeit (Zahlenzeit) mit Naturzeit (Erlebniszeit) vergleicht: „Wenn man eine Frau liebt, misst man nicht Länge und Umfang ihrer Beine.“ (Picasso).
Lesetipp: Gespräch mit Karlheinz A. Geißler in der 34. Ausgabe der KulturBegegnungen, S. 19
Der Lesende lernt den Unterschied zwischen System- und Eigenzeit und dass es eine Vielfalt der Zeiten gibt, letztlich weiß es jeder, wie unterschiedlich Zeiterfahrungen sein können. Aber „die Uhr macht aus dem Lustschloss Zeit eine selbstgewählte Zuchtanstalt“. Man brauche Beschleunigung und Stillstand, Schnelligkeit und Langsamkeit, rasches Arbeiten und geduldiges Genießen.
Pause und Muße
Am geschichtsträchtigen Moment des 9.11.1989, als Günther Schabowski mit seinem berühmten „…sofort. Unverzüglich“ den Fall der Mauer einleitete, leitet Jonas Geißler seine Betrachtung der Zeitvielfalt ein und spricht sich für unterschiedliche Zeitqualitäten aus, wobei Warten ebenso wie Pause und Muße ihre Berechtigung entfalten. Den rechten Augenblick zu erhaschen, im Jetzt einen Flow erleben, aber auch Zwischenzeiten des Nichts in den Tagesablauf einzubauen, das ist für den Autor der rechte Umgang mit den Zeitqualitäten. Und er empfiehlt auch so verpönte Dinge wie Langeweile und Wiederholungen.
Nachhaltige Zeitkultur
Im letzten Abschnitt des Buches wird es praktisch. Der Zeitberater Jonas Geißler gibt hier Empfehlungen für eine nachhaltige Zeitkultur. Eine wichtige Botschaft lautet, dass man sich von der Vorstellung verabschiedet, nur maximal ausgenutzte Zeit sei eine gute Zeit. Dösen auf der Parkbank sei durchaus nachhaltig. Er empfiehlt jedem, mit sich in Resonanz zu treten, um zu ergründen, was ein gutes Leben sei. Wer erkenne, dass das Hamsterrad vielleicht doch nicht so sinnvoll sei, der möge sich fragen, was ein „genug“ bedeute. Statt der To-do-Liste eine Let-it-be-Liste kann der Anfang sein. Der Autor wendet die Erkenntnisse ebenso auf die Arbeitswelt an und gibt wertvolle Hinweise für eine nachhaltige Zeitkultur im Unternehmen, weg von der „Zeit ist Geld“-Logik hin zur „Zeit ist Leben“-Überzeugung.
Die Verquickung unterschiedlicher Perspektiven auf den Begriff der Zeit macht das Buch zu einem wichtigen Kompendium. Für den Nichtphysiker ist Zeit als physikalische Größe in ihrer Ambivalenz anschaulich dargestellt, die ökologisch Interessierte findet den Zusammenhang von Nachhaltigkeit und Zeit. Jeder verantwortungsbewusste Mensch wird angestoßen, seine Lebensweise zu überdenken und Unternehmer erhalten praktische Hinweise zur Veränderung der Zeitkultur.