Ihre Spur schien vorgezeichnet, als Amrei vor 17 Jahren auf die Welt kam. Trisomie 21 hieß die Diagnose, auch Mosaik-Trisomie genannt, eine seltene Form, bei der nur 25 % der Zellen ein zusätzliches Chromosom haben. Dennoch, es schien klar, dass Amrei keinen sogenannten normalen Bildungsweg gehen könne.
Heute, 16 Jahre später, sitzt sie mir lächelnd gegenüber beim Tee. Sie hat mir selbst gebackene Lebkuchen mitgebracht und erzählt voller Freude von ihrem derzeitigen Leben. Früh müsse sie aufstehen, um zunächst von Kreuth mit der Mama oder einer Nachbarin mit dem Auto zum Zug nach Tegernsee zu kommen. Kurz nach sieben sei sie dann in München und laufe zu ihrer Schule, der Caritas Berufsfachschule für Kinderpflege.
Nein, ich wundere mich nicht, denn als ich vor zwei Jahre Amrei kennenlernte, um einen Artikel für die KulturBegegnungen zu schreiben, war ich bereits fasziniert von ihrem Lebensweg. Einfach war es nicht, erzählten damals die Eltern Nicole Ficht-Huser und Erich Huser. Aber sie schafften es. Amrei ging in einen Kindergarten der Lebenshilfe Hausham, konnte aber dann in den regulären Kreuther Kindergarten wechseln. Ein Glücksfall war es, dass die Montessorischule in Hausham gerade ihren Schulbetrieb aufnahm und Amrei nach bestandenem Eignungstest aufnahm. Dort konnte sie mit Unterstützung am ganz normalen Unterricht teilnehmen. Später wechselte sie zur Hauptschule Rottach-Egern. Die Eltern kämpften sich durch alle Instanzen, um gesetzlich mögliche Förderungen für ihre Tochter zu erhalten. Amrei genoss so einen Integrationsunterricht in der Regelschule. Zum Erstaunen stellte sich heraus, dass die Noten überdurchschnittlich gut waren, nur im Fach Deutsch hatte sie Probleme, könne sich nicht so gut ausdrücken und brauche etwas länger, um den Sinn eines Textes zu erfassen.
Im Sommer 2012 trafen wir uns wieder. Überglücklich erzählten mir die Eltern, dass Amrei mit einem Durchschnitt von 2,2 den besten Quali der Hauptschule Rottach-Egern abgelegt habe und eine Ausbildung zur Kinderpflegerin absolvieren werde. Das war schon damals ihr Wunsch, als ich das sympathische Mädchen kennenlernte. Denn Amrei hat mehrere Stärken, die sie als Äquivalent zu ihrer Deutschschwäche in die Waagschale werfen kann. Zum einen hat sie unendliche Ausdauer und Geduld. Gepaart mit großem Ehrgeiz erledigt sie ihre schulischen Aufgaben, auch wenn sie länger als andere braucht.
„Mein Ziel ist es, gut in der Schule zu sein und ich bin froh, dass ich etwas lernen kann. Und ich will unter 3,0 bleiben“, sagt mir Amrei ernsthaft. Dann hätte sie nämlich den Mittleren Bildungsabschluss und könnte sich weiter zur Erzieherin qualifizieren. Ihre gefalle es sehr gut an der Schule, meint Amrei, der Unterricht sei lebendig, „die Lehrer verstehen es, mit den Schülern umzugehen.“ Ihre Lieblingsfächer sind Sport, Kochen und Musik. Kein Wunder, denn ich weiß wie musikalisch Amrei ist. Sie spielt Klavier und singt. Erst kürzlich hörte ich sie bei einem Konzert der Sunshine Gospel Singers Rottach. Als Solistin. Sie erhält Gesangsunterricht und freut sich riesig, wenn sie im Chor solistische Partien singen darf.
Auch der praktische Unterricht im Kindergarten macht Amrei Spaß. Sie komme gut mit den Kindern und Erzieherinnen aus. „Nur das Durchsetzungsvermögen fehlt mir noch, dass muss ich noch lernen“, räumt sie ein. Und mehr Selbstbewusstsein. Dabei helfen ihr sicher die zwei Schulfreundinnen in München, mit denen sie redet und lacht und albert und die Wochenenden verbringt. Von Handy und iPod hält sie nicht viel. „Im Zug lerne ich lieber“, sagt sie, „denn abends zu Hause habe ich keinen Bock mehr.“ Auch der PC ist nicht sehr wichtig, außer ab und zu ein youtube-Video, aber bei facebook sei sie nicht, lieber treffe sie ihre Freundinnen.
Und wenn es ihr mal schlecht gehe, dann ist die Musik ihr Ventil. Klavierspielen, singen. „Jetzt nehme ich mir gerade die Musik von ‚Herr der Ringe vor‘ und mache daraus ein Medley“, erzählt sie mir. Sie wolle immer dazulernen und dranbleiben. Ein zweiter Kraftquell ist die Familie. Mit der Mama singt sie im Chor, mit dem Papa geht sie wandern und klettern. „Da haben wir viel Zeit zum Reden“, erzählt Amrei. Aber auch am Esstisch zur Brotzeit, wenn die ganze Familie, auch der große Bruder Jonas da ist, ist Gelegenheit über ihre Probleme zu sprechen.
Ich frage Nicole Ficht-Huser, was sie für andere betroffene Eltern als Ratschläge parat hat. „Informieren, was möglich ist“, sagt sie, „es gibt viele Hilfen und Fördermittel, die man ausschöpfen kann, aber man muss sich erkundigen.“ Widerstände seien immer da, ergänzt Erich Huser. Wichtig dabei sei, die Möglichkeiten mit Diplomatie auszuloten und die eigenen Rechte mit Fingerspitzengefühl durchzusetzen. Offen, klar, ehrlich und menschlich müsse man die Verhandlungen bei den Behörden führen, das sei die Basis, um diesen schwierigen Weg zu meistern.
Das A und O aber sei zu erkennen, welche individuellen Stärken im Kind stecken und diese zu fördern. Bei Amrei seien diese Stärken auf musischem und sportlichen Gebiet und ihre Neugierde. „Das lässt was zu“, sagt er. Und Nicole Ficht-Huser gibt jungen Menschen noch einen ganz allgemeinen Rat: „Wenn ihr ein Ziel habt, dann lasst euch nicht abschrecken, manchmal muss man auch etwas gegen den Elternwillen durchkämpfen.“
Das war bei Amrei nicht nötig, die Familie zog an einem Strang, um die scheinbar vorgegebene Spur zu wechseln.
Monika Ziegler
Publiziert 25. Januar 2013