Die neue Sehnsucht nach Authentizität
Salon Luitpold. Foto: Cafe Luitpold
Online-Vortrag und Diskurs
Politiker und Künstler sollen heute authentisch sein. In Romanen wird viel Autobiografisches angeboten. Warum ist das so? Und was ist die Kehrseite davon? Gibt es Gegenentwürfe? Dazu diskutierten im Salon Luitpold Erik Schilling und Kia Vahland.
Eine authentische Rede habe Joe Biden zu seiner Amtseinführung gehalten. Dieses Medienecho habe anerkennend geklungen, sagte Jutta Höcht-Stöhr von der Evangelischen Stadtakademie, die in Kooperation mit dem Salon Luitpold zur Zoom-Diskussion eingeladen hatte. Sie führte damit in das Thema ein, das Thema des Authentizitätsbooms in der Gegenwart.
Der Münchner Literaturwissenschaftler Erik Schilling indes sieht diese Entwicklung kritisch und verfasste ein Buch mit dem Titel „Authentizität: Karriere einer Sehnsucht“. Darauf ist ein Affe zu sehen. Der Witz dieses Fotos sei, so der Autor, dass es ein Selfie sei, der Affe habe sich also selber fotografiert. Folge, der Tierschutzverein verklagte den Kamerabesitzer wegen der Bildrechte.
„Machen wir uns zu Affen?“ fragte Erik Schilling und war mittendrin im Thema, das derzeit durch alle Medien geistere. Sei Authentizität ein Mittel zum Erfolg? Ist die Sehnsucht danach gut? Und welche Probleme gibt es? Wer definiere denn, was „authentisch weiblich“ oder gar „authentisch deutsch“ sei? Dafür gebe es keine Behörde, die die Eigenschaften festlege.
Selfie eines Affen. Wer hat die Bildrechte?
„Authentizität ist überall, aber schwer zu fassen“, konstatierte der Vortragende. Als Übereinstimmung einer Beobachtung mit der eigenen Erwartung wagte er zu definieren, was man unter Authentizität verstehe und schränkte ein, nicht den wahren Kern einer Sache oder einer Person kennzeichne der Begriff, sondern nur die eigene Zuschreibung.
Am Beispiel von Donald Trump wurde die Argumentation deutlich: „Er ist ein Politiker, den man mögen muss, wenn man Authentizität mag, er nutzt die Sehnsucht danach sehr erfolgreich aus.“ Er selbst aber könne nicht beurteilen, ob das echt sei.
Was ist gute Literatur
Ebenso die Frage, ob soziale Medien authentisch sind. Sind Fotos der Prominenten echt oder inszeniert? Und wie steht es mit der Gegenwartsliteratur? Erik Schelling vertritt die These: „Gute Literatur zeichnet sich nicht durch Authentizität aus.“ Er begründet das damit, dass er sagt, man könne nicht beurteilen, ob der Roman authentisch sei.
Sein Resümee: Die Sehnsucht der Gegenwart nach Authentizität sei eine Gegenreaktion auf die empfundene Beliebigkeit durch Digitalisierung und Globalisierung in der Postmoderne. Sinnvoll sei sie aber nur innerhalb sehr enger Grenzen, etwa wenn man von einem Bild von Picasso spreche.
Professionalität statt Authentizität
Der promovierte Literaturwissenschaftler stellte drei Gegenvorschläge vor, die seiner Meinung nach besser die Qualität eines Objekts oder einer Person beschreiben: Professionalität, situationsangepasstes Verhalten und Toleranz von Ambiguität, also das Aushalten von Widersprüchen.
Lesetipp: Ambiguitätstoleranz gesucht
Die Meinungsredakteurin und Kunstkritikerin der Süddeutschen Zeitung Kia Vahland fragte, ob nicht die Sehnsucht der Menschen nach Wahrhaftigkeit verständlich und auch als Revolte gegen Stereotype erklärbar sei. Man müsse das Bedürfnis zurückschrauben, ging Erik Schelling wieder auf Authentizität ein, denn dies könne man nicht beurteilen, es sei letztlich eine Anmaßung. Was man aber einschätzen könne, sei, ob beispielsweise die Politik der Bundeskanzlerin widerspruchsfrei sei.
Sicher habe der Authentizitätsboom emanzipatorischen Charakter, aber er spreche gegen eine plurale Gesellschaft, sagte Schelling und Wahrhaftigkeit sei ein Ideal, im Journalismus sei es zwingend, in der Literatur aber keineswegs. „Es ist egal, was der Autor erlebt hat.“
Infragestellen ist nötig
Aber die Selbstbespiegelung in der Literatur sei doch sehr erfolgreich, warf Kia Vahland ein. Dies resultiere eventuell aus dem gefühlten Verlust von Fixpunkten. Die Hinwendung zum Natürlichen habe es in allen Epochen schon gegeben. „Wir brauchen ein Infragestellen“, meinte die Journalistin und der Literaturwissenschaftler schlug dazu vor, sich selbst die Frage zu stellen: Bin ich authentisch oder entspreche ich einem Bild, das ich von mir habe?