Bericht zur Lage des Glücks
„Bericht zur Lage des Glücks“. Foto: MZ
Buchtipp von KulturVision
Der sperrige Titel verschleiert, was dieses Buch ist: ganz große Literatur. Bodo Kirchhoff hat mit seinem neuen Roman nicht nur Aktuelles sondern ebenso die ganz großen Themen des Menschseins mit der ihm eigenen großartigen Sprache so behandelt, dass bei der Leserin großes Staunen zurückblieb.
Ich gebe zu, das 604 Seiten umfassende Buch, von einer Freundin vorbeigebracht, lag monatelang unberührt im Regal. Dann ereilte mich Covid, plötzlich Stillstand, Stöckchen im Rad und nachdem alle Termine umbesetzt waren, die Krankheit mild verlief, nahm ich das Buch zur Hand.
Wucht des Romans
Auf Seite 417 entschied ich, langsamer zu lesen, damit sich das absehbare Ende möglichst verzögert, aber gestern Abend war ich auf Seite 604 angelangt, atemlos, nicht wegen Covid, sondern von der Wucht dieses Romans.
Beim Schreibseminar am Gardasee: Ulrike Bauer und Bodo Kirchhoff. Foto: MZ
Bodo Kirchhoff ist einer meiner Lieblingsautoren, ich habe fast alles von ihm gelesen und nachdem ich zweimal an seinen großartigen Schreibseminaren am Gardasee teilnehmen durfte, konnte ich ihn auch als Mensch und Lehrer gemeinsam mit seiner Frau Ulrike Bauer kennenlernen. Mit großer Tiefgründigkeit begibt er sich in die Texte seiner Teilnehmer, ich musste ordentlich Kritik einstecken und habe wahnsinnig viel gelernt, wie man eine Geschichte erzählt.
Wo er mit Lydia glücklich war
In seinem neuen Buch, nach „Dämmer und Aufruhr“ 2018 und der mit dem deutschen Buchpreis 2016 ausgezeichneten Novelle „Widerfahrnis“, lässt der Autor wieder einmal einen alternden, im Beruf und in der Liebe gescheiterten Mann nach Italien fahren. Er will sich Salz in die Wunde streuen und noch einmal die Orte in Kalabrien besuchen, wo er mit Lydia glücklich war. Lydia, die jetzt mit dem bekannten Fernsehmoderator Benedict Cordes zusammen ist.
Fahrt durch Kalabrien. Foto: pixabay
Dabei trifft er auf die geflüchtete Afrikanerin, deren Namen die Leserin nicht erfährt, obwohl mehrfach über ihn geschrieben wird. Aber der Name ist ebenso nicht fixierbar wie ihr Antlitz oder auch ihr ganzer Körper, denn so erklärt der Autor die merkwürdige Tatsache, dass auf Fotos, die von ihr gemacht werden, nicht sie, sondern eine afrikanische Landschaft zu sehen ist: Aus ihrem Gesicht könne man keine Nullen und Einsen machen. Und auch: Du sollst dir kein Bild machen.
Die Unverfügbarkeit des Menschen, des Daseins, des Lebens, das Nichtfassenkönnen des Anderen, ja Transzendenz und Religion werden mit dieser unerklärlichen Situation, die zu einer Jagd auf die Afrikanerin führt, symbolhaft angedeutet. Die ersten 300 Seiten des Buches befassen sich ausschließlich mit der Reise des Mannes, auch sein Name – einsilbig – wird nicht genannt, mit seiner Begleiterin.
Innerliche Vertrautheit
Ich fühle mich beim Lesen an den „Nachsommer“ von Adalbert Stifter erinnert, von dem behauptet wird, dass nur wenige das Buch zu Ende lesen. Es passiert eigentlich nicht viel, das aber wird so eindringlich, so präzise und sorgfältig erzählt, dass es die Leserin einhüllt. Die Landschaft, die sich zart entwickelnde Beziehung zwischen den beiden Protagonisten, ohne dass sie sich offensichtlich erfüllt, vielmehr eher eine innerliche Vertrautheit entsteht, das kann Bodo Kirchhoff meisterhaft wiedergeben.
Er hat seinen „Bericht zur Lage des Glücks“ an zwei Orten niedergeschrieben, einmal in dem kleinen Ort im Schwarzwald, wo er seine Kindheitsliebe Maren – sie hat einen Namen – wiedertrifft und einmal in dem Grenzort in Afrika, aus dem seine Reisegefährtin stammt. Hierher zieht er sich letztlich zurück, nachdem sie nach einem Eklat in Mailand verschwunden ist.
In Mailand kommt es zum Eklat. Foto: pixabay
Im zweiten Teil des Buches nimmt das Geschehen an Fahrt auf, was sich vorher nur andeutet wird jetzt deutlich: Wie geht Europa mit Geflüchteten um, wie zeigt sich Rassismus und wie müsste ein Mensch, dem die Liebe widerfahren ist, dem entgegentreten? „Don’t touch me“, sagt die Afrikanerin. Die Frage, die Bodo Kirchhoff aufwirft und den Kern des Romans ausmacht, ist: Warum bin ich in dieser Welt? Ist es ein Glück oder ein Unglück (Pech), dass es mich gibt?
Auch die Schilderung des Dorfes in Afrika – das Land bleibt im Geheimen – ist wiederum von einer solchen Prägnanz und Detailliertheit, dass die Leserin den Staub nachgerade auf der Haut spürt und die Lastwagenfahrer ebenso wie Fleischspieße und sich selbst anbietenden Mädchen sieht.
Der Affenbrotbaum spielt eine besondere Rolle im Buch. Foto: pixabay
Dass er am Ende in sein Land zurückkehrt, hat der alternde Journalist Corona zu verdanken – in einer letzten Maschine wird er ausgeflogen und dann landet der Autor noch einen Coup: Auf den letzten Seiten des Buches taucht Dr. Branzger auf, der Lehrer aus „Wo das Meer beginnt“, hier als pensionierter Richter, dem eine wichtige Aufgabe zufällt.
Glück und Liebe ausgelotet
Bodo Kirchhoff versteht es wie kaum ein anderer, das Thema Glück und Liebe auszuloten. Keiner, der das Buch „Bericht zur Lage des Glücks“ liest, bleibt unbeeinflusst zurück. Neben beim Berührtsein durch den Inhalt ist die Leserin von der Sprache fasziniert. Wie immer. Sie widerspricht allem, was in modernen Schreibseminaren gelehrt wird: Keine Schachtelsätze, viele Dialoge.
Bodo Kirchhoff schreibt wie Heinrich von Kleist oder Thomas Mann, manchmal haben die Sätze die Länge einer Viertelseite. Sie zwingen zum Langsam lesen und entfalten gleichermaßen einen Sog. Dialog verwendet er eher sparsam und sie sind auch nicht als solche gekennzeichnet. Zudem kann er herrlich süffisant Dinge beschreiben, denen er wenig Wert beimisst, wie etwa dem Handy. Ich lese: die bessere elektronische Hälfte des Menschen.
Nachdem ich gestern Seite 604 gelesen habe, beginne ich heute noch einmal bei Seite 1.