Bildersintflut im digitalen Biedermeier
Blick über Bergham: Nie hat Ästhetik mehr gelangweilt. Foto: Volker Camehn
Sonntagskolumne
Naturschnappschüsse für den Befindlichkeitswettlauf: Von der Ödnis der Realitätsverweigerung im Social-Media-Kosmos.
Die Hölle, das sind vor allem die schönen Fotos. Von Bergen, Flüssen, Seen und Wiesen, aufgehenden Sonnen im Morgennebel, abnehmenden Monden ohne Nebel… Willkommen im digitalen Biedermeier. Aktuell, also in der Adventszeit, wird das allgemeine Motivmassaker noch um Kerzen- und Lichterkettenpornos auf Dachterassen erweitert, hochgeladen in Statusmeldungen, Facebook-Accounts und Instagram-Auftritten. Vor Iphone- und Smartpthone-Fotofunktionen ist nichts, wirklich gar nichts sicher, so scheint es. Foto kann ja sowieso jeder.
Zu den Folterwerkzeugen des Frivolen gehören Filter und Bildbearbeitungsprogramme aller Unart und in der banalisierten Unwucht der Motivsintflut stellt sich unvermittel die Frage nach der Motivation: Wozu eigentlich? Was sollen uns diese Bilder sagen? Es muss ja nicht gleich Sinn-Flut sein, aber ein wenig Anregung wäre schon schön. Denn nie hat Ästhetik mehr gelangweilt als im Übermaß ihres Behauptens. Spätestens beim dritten Schneekoppe-Panorama klickt man gelangweilt weiter: Im allgegenwärtigen Überfluss steckt der Kern jeder Banalisierung weil Beliebigkeit.
Der Eindruck mag täuschen, aber die Corona-Pandemie macht in diesem Zusammenhang vielleicht nicht alles schlimmer – aber doch deutlicher. Die so Social Media-ausgestellten Augenblicke taugen, wenn überhaupt, in ihrem wahllosen Bild-Kontext gerade mal zur trotzigen Behauptung vom „Alles ist gut“.
Realitätsverweigerung, die Heiles heuchelt, als wäre dieser Planet noch irgendwie intakt: Schaut her, so schön ist das Leben! Man gönnt sich ja sonst nichts. Auf ewig festgepostete Naturausschnitte als Kronzeugen im Befindlichkeitswettlauf um ausgeblendete Disruptionen – möglicherweise ein Akt gegen die Panik im Pandemie-Gequengel und dass das mit dem Job vielleicht doch nicht so sicher ist, derweil die Home-Office-Heimeligkeit sich doch letztendlich als klaustrophobisches Konstrukt erweist.
Denn auch hiervon kündet die Banalität des demonstrativ Schönen: Schaut her!, scheinen seine Verursacher zu schreien, ich habe (immer noch?) einen Blick für all dieses Paradiesische. Naturideal trifft vorgebliche Feinsinnigkeit. Klimawandel? Dann lieber Idylle als sich selbstvergewisserndes Konsumkonstrukt, das im Übrigen nicht mehr kostet als etwas Speicherplatz. Wie öde.
Es geht auch anders: Hier geht das Motiv über Sehgewohnheiten hinaus und erschafft „eine eigene kleine Welt“. Foto: Andrea Rother
Da sich die Bildpostulate im Schaufenster der eigenen Gemütsverfassung selten als Kunst, dafür aber als künstlich entpuppen, frei von jeder ironischen oder irgendwie sonstwie ästhetischen Brechung (was ja Humor voraussetzen und zumindest die Möglichkeit von etwas Besonderem ermöglichen würde), weisen sie über liebgewonnene Sehgewohnheiten in aller Regel nicht hinaus. Jeder Duschgel-Werbespot birgt mehr ikonische Ebenen als die geknipsten Plattheiten vom Plattensee, oder, weil das ja aktuell schwierig ist, von Mangfall-Mäanderei und Tegernsee-Touristik. Der 2006 verstorbene New Yorker Fotograf Arnold Newman soll einmal gesagt haben: „Fotografie ist nicht real. Sie ist eine Illusion von Realität, mit der wir unsere eigene kleine Welt erschaffen.“ Aber gleich so klein?
Noch ein positives Beispiel entgegen der Bildersintflut. Foto: Andrea Rother
Und klar: Die Natur ist derbe schön, auch unbelichtet. Oder traut ihr euren Wahrnehmungen nicht mehr? Das wäre echt die Hölle.
Lesetipp: Prost&Prosa, Band 5: „Ich bin mit meinen Reimen im Reinen“