Der Blick zurück ist der nach vorn

Die Biografieberaterin Karen Just beim Interview im Café Mesner in Schliersee. Foto: IH

Das Ende eines Jahres bietet so manch einem die Gelegenheit, aus dem Strudel der Ereignisse kurzzeitig auszusteigen, um sich abseits des Geschehens einen Überblick über das Erlebte zu verschaffen. In der sogenannten „Biografiearbeit“ macht man genau das, allerdings nicht nur als Rückschau auf das vergangene Jahr, sondern auf das gesamte eigene Leben.

Interview in Schliersee

Ich treffe mich mit der Biografieberaterin Karen Just. Diese mir auf Anhieb imponierende Frau beschäftigte sich schon seit ihrer Schulzeit in privatem Rahmen mit der Biografie-Thematik, bevor sie sich vor vier Jahren dazu entschloss, ihr privates Interesse auch zum Beruf zu machen; bis dahin war sie in der Pädagogik sowie in der Wirtschaft beruflich tätig gewesen. Von 2020 bis 2023 absolvierte die gebürtige Goslarerin, die seit 2011 mit ihrem Mann in Schliersee lebt, die Ausbildung zur systemischen Biografieberaterin; seitdem gibt sie Gruppenkurse – unter anderem an der vhs Oberland und dem kbw Miesbach – und bietet Einzelberatungen an. Ich möchte von ihr wissen, was Biografiearbeit genau ist, und erfahre, warum es sich lohnt, in einer Biografieberatung den Fragen über die eigene Lebensgeschichte nachzugehen.

Mehr als ein Spiegel

Mir selbst war der Begriff der Biografiearbeit zuvor noch nicht vertraut, deshalb will ich dem gängigen Missverständnis, dem auch ich bis dato aufgesessen bin, gleich zu Anfang dieses Artikels vorbeugen: Biografiearbeit ist kein therapeutisches Konzept, wenngleich es natürlich auch im Therapiekontext verwendet werden kann. Biografiearbeit ist schlicht und ergreifend eine Arbeitsmethode, die es ermöglicht, über das eigene Leben zu reflektieren; eine „bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensweg und den Lebensumständen“ (Just). Die Arbeit besteht jedoch nicht nur darin, zurückzuschauen und einen Überblick zu gewinnen, sondern auch aus dieser Rückschau auf den eigenen Lebensweg wichtige Erkenntnisse für die Zukunft mitzunehmen.

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Während man bei der Psychotherapie des Öfteren (und stets mit gutem Recht) dazu genötigt wird, dahin zu schauen, wo man zunächst lieber nicht hinschauen möchte, ist man dagegen bei der Biografiearbeit selbst der souveräne Gestalter des intimen Prozesses: „Ein Biografieberater führt dich, aber bewertet nicht. Er stellt dir Fragen, und du entscheidest, worein du dich vertiefen willst.“, erklärt mir die Biografieberaterin. Zudem gehe es in der Biografieberatung nicht immer um eine Gesamtaufklärung, zuweilen können auch nur bestimmte Dinge „dran“ sein; mal möchte man sein Leben unter der Fragestellung des beruflichen Werdegangs betrachten, mal der Frage nach Liebe und Partnerschaft nachgehen.

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: „Ein Buch für Laien und Experten gleichermaßen“ (Just) von der Schweizer Philosophin und Psychoanalytikerin Prof. Dr. Verena Kast. Foto: IH

Ich frage die Frau, die mir gegenübersitzt, ob Biografieberatung folglich wie ein Spiegel funktioniere? „Es ist mehr als ein Spiegel“, antwortet mir Karen Just. Aufgabe einer Biografieberaterin sei es nämlich nicht nur, den Betreffenden durch geführte Übungen ins Erzählen zu bringen, sondern auch das Erzählte nachträglich zu ordnen. Bei dieser nachträglichen An- und Einordnung, die bisweilen einer Neuordnung des Lebens gleichkommt, tue sich nicht selten die ein oder andere biografische Stringenz auf, die den Betroffenen selbst überrascht. Da gibt es dann das große Aha-Erlebnis, wenn einem aufgezeigt wird, wie sich bestimmte persönliche Themen über die Jahre hinweg wiederholt haben und sich als bislang unbewusste Lebensaufgabe durch das gesamte Leben ziehen.

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Nicht die Interpretation, sondern eine hellsichtige Zusammenfassung, das sei vorrangig die Leistung einer Biografieberaterin: Es gelte „Lebensrhythmen und Lebensgesetzmäßigkeiten aufzudecken“ (Just), Unbewusstes ins Bewusstsein zu holen, und den Betreffenden somit handlungsfähiger zu machen, was die bewusste Gestaltung der eigenen Zukunft betrifft. Eine Zukunft, die in der Gegenwart begonnen werden kann, sobald die Vergangenheit ihr nicht mehr im Weg steht.

Rote Fäden

„Wenn jemand zu mir kommt und sagt: ‚Mein Leben ist ein Chaos, es gibt keinen roten Faden‘, dann kann ich demjenigen aufzeigen, dass es womöglich mehrere rote Fäden in seinem Leben gibt. Es kann auch vorkommen, dass solche Leute die Fäden dann sogar von alleine finden, weil sie nicht mehr beschränkt darauf sind, dass es nur ein einziger roter Faden sein muss.“ Ich hake ein wenig polemisch nach, ob es nicht sein kann, dass ein Leben tatsächlich nur aus einem Haufen unzusammenhängender Einzelteile bestehe? „Dass es gar keinen roten Faden in einem Leben gibt, das gibt es nicht, würde ich behaupten“, sagt Karen Just, und vielleicht muss man von dieser Überzeugung beseelt sein, damit Biografieberatung nicht nur Beruf, sondern Berufung ist.

Die roten Fäden eines Lebens können in der Biografieberatung beispielsweise in einem biografischen Zeitstrahl oder einem sogenannten Lebenstableau sichtbar werden, das in mehreren Beratungssessions gemeinsam erarbeitet wird. Wer jetzt wiederum vermeint, das Leben ließe sich als eine bloße Abfolge kohärenter Ereignisse entschlüsseln, dem würde Karin Just vehement widersprechen: „Das Leben ist das Lebendige“, das könne man nicht einkasteln. In der Biografiearbeit entstehe darum bestenfalls „ein lebendiges Bild meiner Selbst“. Ein bewegtes, bewegliches Bild, das unser oft zu starres Selbstbild ablösen kann, insofern wir es zulassen.

Karen Just liest eine Textpassage aus „Das Leben in die Hand nehmen“ von Gudrun Burkhard, ein weiterer ihrer Lesetipps, um in das Thema „Biografiearbeit“ einzusteigen. Foto: IH

Das Eigene

„Wie gelingt Versöhnung mit dem, was war, und dem, was ist?“ Eine fast nüchterne Betrachtung der Vergangenheit, die es ermöglicht, sich das Geschehene emotional vom Leib zu halten, auch das könne ein Ergebnis von Biografiearbeit sein. „Das hohe Ziel der Biografiearbeit ist, einen Bewusstseins- und Wandlungsprozess einzuleiten“ (Just) und die Deutungshoheit insbesondere über dasjenige Vergangene zu gewinnen, dem man umständehalber ausgesetzt war.

Darüber hinaus ist es Karen Just ein Anliegen, in der Biografiearbeit den Fokus auch auf das zu richten, was die betreffende Person – im wörtlichen Sinne: eigentlich – ausmacht. Wir alle hätten nämlich auch ein „Eigenes“, bei dem es zuweilen ganz unmöglich ist, dieses beispielsweise aus dem Familienkontext herzuleiten; wodurch es irrelevant wird, den vermeintlich biografischen Ursprung dieses Eigenen ausfindig zu machen. Relevant sei nur, ihm auf die Spur zu kommen in seinem Leben. Dass „sich das Eigene Bahn bricht“ (Just), das sei letztlich das, worauf es ankomme in der eigenen Lebensgeschichte.

Der Blick zurück ist der nach vorn: Die Biografieberaterin Karen Just sucht in der Rückschau nach Ressourcen für die Zukunft. Foto: IH

Deswegen bedauert es die Biografieberaterin umso mehr, dass nicht wenige Menschen glaubten, ihr eigenes Leben sei nicht spannend oder gar langweilig. Das Gegenteil gilt es in der Biografiearbeit aufzuzeigen: Dass es so etwas wie ein langweiliges Leben überhaupt nicht gibt. Jeder Mensch hat sein ganz Eigenes, Unverwechselbares, das ihn als Mensch unter anderen Menschen auszeichnet. Doch die eigene Identität werde häufig erst in der Zusammenschau von Erinnerungen sichtbar, so Just; denn in den alltäglichen Verstrickungen des Lebens läuft jene Gefahr, unerkannt unterzugehen. Es lohnt sich also, innezuhalten und sich anzuschauen, wer man war, um zu verstehen, wer man ist. Und um beständig daran arbeiten zu können, zu werden, wer man sein will.

Ein großes Mysterium

Biografiearbeit bedeutet, aus der eigenen Biografie zu lernen. Aus diesem Verb jedoch lässt sich mehr herausziehen, als es den Anschein hat: „Ich habe das gelernt, heißt: Ich habe das zur Verfügung“, erklärt mir Karen Just. Das Gelernte ist also das, über das ich frei verfügen kann. Autobiografische Kompetenz, nennt sie das in Bezug auf die eigene Biografie. Obwohl das eine Art von Kompetenz ist, über die wir Menschen im Grunde alle verfügen sollten, schreckt der Begriff „Arbeit“ wohl manch einen erstmal ab. Aber was gibt es denn Spannenderes als das eigene Leben?, fragen wir uns, die wir seit Stunden begeistert über nichts anderes sprechen. Wir kommen darin überein, dass es schlichtweg ein großes Mysterium ist, wie jedes einzelne Menschenleben bei genauer Betrachtung zwar nie ein logisches Gebilde, aber doch immer ein stimmiges Gesamtkunstwerk ergibt.

Da fällt Karen Just am Ende unseres Treffens noch etwas ein: Der Anfang des Gedichts „Das Fundament“ von Conrad Ferdinand Meyer, das zum Abschluss dieses Artikels hier noch vollständig abgedruckt werden soll. In diesem Sinne unserer ganzen Leserschaft ein frohes neues Lebensjahr.

Sei wahr und wirf ihn weit zurück
Den Schleier über Deinem Blick
Und sieh Dich wie einen Andren an
Und benenn es alles, was du getan!
Die Wahrheit ist ein scharfes Schwert
Das mitten durch die Seele fährt.

Der Zauber weicht, es flieht der Schein,
Die Luftgebäude stürzen ein
Und wenn der Staub verronnen ist,
So nimm Dich selber, wie Du bist.
Und baue wieder und bau zu End
Auf dieses bescheidene Fundament.

Terminanfragen für Gruppen- oder Einzelsessions zur Biografieberatung mit Karen Just unter karenjust123@gmail.com.

Zum Weiterlesen: Dialog der Generationen – Der 6. Warngauer Dialog

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