Bodo Kirchhoffs Roman über die frühen Jahre
„Dämmer und Aufruhr“. Foto: Monika Ziegler
Der Junge auf dem Foto ist zwischen Himmel und Erde. Vermutlich springt er von einem Sprungbrett ins Wasser. Seine hoch gerissenen Arme lassen vermuten, dass er in diesem Moment voller Freude ist. Der Junge ist Bodo Kirchhoff und in seinem Roman „Dämmer und Aufruhr“ erfahren wir wie es ihm wirklich ging.
Roman der frühen Jahre nennt der Autor sein soeben erschienenes Buch und einschließlich Foto wird schnell klar, dass es ein autobiografisches Werk ist. Und sehr schnell wird der Leser in einen Sog hineingezogen, der ihn nicht aufhören lässt zu lesen, zu lesen, bis er die 460 Seiten verschlungen hat. Und das hat keineswegs etwas mit durchs Schlüsselloch schauen zu tun.
Bodo Kirchhoff erzählt in diesem Buch beispielhaft, wie ein Heranwachsender, der sich nach Liebe sehnt, die vielen verschiedenen Facetten der Liebe entdeckt. Da ist die Wiener Großmutter, er nennt sie Hüterin, denn sie ist die einzige bedingungslos Liebende, die dem Enkel Geborgenheit schenkt. Da ist die schöne Mutter, die der Ich-Erzähler anbetet, die aber ebenso wie der Vater, sich ständig verflüchtigt, ihr eigenes Leben leben will. Die Liebe zwischen Mutter und Sohn ist der Anker, um den sich alles dreht. Da sind ödipale Momente, etwa, wenn der Vierjährige und die Mutter im nachmittäglichen Dämmer nackt auf dem Bett liegen und er mit einem Bleistift neugierig auf Entdeckungsreise in den weiblichen Körper geht. „Aber nicht mit der spitzen Seite“, murmelt sie. Peinlich? Keineswegs, Bodo Kirchhoff versteht es meisterhaft, sowohl detailliert als auch distanziert zu erzählen.
Der Winnetou ähnliche Lehrer
Ebenso genau, bis es der Leser nachgerade spüren kann, erzählt der Autor die Beziehung zu dem Kantor und Lehrer im Internat am Bodensee, bereits bekannt aus früheren Publikationen. Wer hier eine Abrechnung in Sachen Missbrauch erwartet, wird enttäuscht. Der 11-Jährige fühlt sich zu dem Winnetou ähnlichen Lehrer hingezogen, zumal er die Liebe seiner Eltern vermisst, sich abgeschoben fühlt. Erst später merkt er, dass er nicht der einzige ist, dass er mehr gibt als er bekommt.
Und dann die Frauen. Der Erzähler muss durch viele Betten gehen, lieblos, bis er sie doch findet, die Frau, die er lieben kann. Aber das wird nur angedeutet, denn das Buch endet mit dem ersten schriftstellerischen Erfolg nach dem Pädagogikstudium.
Drei Erzählebenen
Bodo Kirchhoff ist bekannt für seinen brillanten Erzählstil, eine Sprache, die auch in diesem Buch wieder fasziniert. Er wechselt permanent die Erzählperspektive vom Ich zum Er und zieht dadurch den Leser in seinen Bann. Und er hat auch dieses Buch spannend komponiert. Er verflicht gekonnt drei Erzählebenen. Die ausführlichste ist die chronologische Erzählung seiner Kindheit und Jugend, aber immer retardierend unterbrochen durch den Bericht des Aufenthaltes des Autors in einem Hotel in Alassio. Hier hatten die Eltern vor ihrer Scheidung noch einmal glückliche Tage verbracht und hier, genau in ihrem Zimmer, schreibt nun der Sohn die Geschichte ihrer Familie auf.
Trauer und Zuneigung
Der dritte Strang ist der berührendste. Bodo Kirchhoff besucht seine Mutter in ihren letzten Lebensmonaten am Tegernsee, wo sie bettlägerig aber immer noch sich durchsetzend und gewohnt theatralisch dem Sohn Befehle erteilt, sich aber einem ernsthaften Gespräch verweigert. Diese Szenen sind von einer solchen schonungslosen Eindringlichkeit, dass der Leser erschüttert zurückbleibt. Hier scheinen starke Emotionen durch, Trauer ebenso wie Zuneigung.
Und so ist „Dämmer und Aufruhr“ zwar ein Roman über das Erwachsenwerden eines Kindes und Jugendlichen und über gefährliche Irrungen, aber es ist in erster Linie ein Buch über das, was eine Familie ausmacht, über das, was eine Familie zusammenhält oder eben auch nicht. Und letztlich ist es eine Liebeserklärung des Autors an die verstorbene Mutter, bei allem Schmerz, der immer wieder durchklingt und bei aller Ambivalenz der Beziehung.
Bodo Kirchhoff wird immer wieder bescheinigt, dass er Sexualität in seinen Romanen thematisiert. Auch in diesem, für mich seinem bisher besten Roman, spielt Sexualität eine Rolle, tritt aber gegenüber emotionaler Kraft in den Hintergrund. Wie er es versteht, Unsagbares spürbar werden zu lassen, das ist meisterhaft.
Beim Schreibseminar: Ulrike und Bodo Kirchhoff. Foto: Monika Ziegler
Wer die Kunst des Erzählens bei Bodo Kirchhoff lernen will, kann sich für seine jährlichen Schreibseminare, die er mit seiner Frau Ulrike in ihrem Haus am Gardasee durchführen, anmelden.
Vor zwei Jahren erhielt Bodo Kirchhoff für sein Buch „Widerfahrnis“ den Deutschen Buchpreis. Lesen Sie hier unseren Beitrag: