Irak: Die Rückkehr der Christen
Die Sehnsucht nach Frieden ist allen Menschen im Irak gleich. Foto: Fritz Stark
Der „Islamische Staat“ scheint bald Geschichte, und die Städte und Dörfer der Ninive-Eben im Irak sind befreit. Jetzt hoffen die wenigen verbliebenen Christen auf einen Neuanfang. Nach der Flucht wollen sie ihr Leben wieder aufbauen. Es ist vielleicht der letzte Versuch.
Reportage aus dem Irak
Das Entsetzen steht ihm bis heute ins Gesicht geschrieben: Der syrisch-orthodoxe Priester Daniel Behnam wendet sich um und zeigt in den Altarraum seiner Pfarrkirche hinein. „Schauen Sie“, sagt er, „hier stecken noch die Kugeln in der Wand. Und hier haben sie sogar das Altarbild zerstört.“ Dann bleibt er vor der Eingangstüre stehen und erzählt von dem Augenblick, an dem er hätte sterben können.
Es war vor wenigen Monaten, als er zurück in die kleine Stadt Bashiqa im Norden des Irak kam. Zum ersten Mal, seit er und die gesamte Gemeinde vor den Schergen des sogenannten „Islamischen Staates“ hatten fliehen müssen. Fliehen oder sterben, das war ihre Wahl gewesen. Pfarrer Daniel und die Seinen gingen, ein weiteres Mal, wie es die Christen in dieser Region des Nahen Ostens schon so oft hatten tun müssen. Doch dann, nach drei langen Jahren, kamen endlich gute Nachrichten: „Der IS ist weg, sie haben sich zurückgezogen. Vielleicht können wir wieder heim.“ Sie wollten die Rückkehr wagen.
Also näherte sich Pfarrer Daniel Behnam eines Tages ganz vorsichtig der verlassenen Pfarrkirche von Bashiqa und sah sich um. Er öffnete die eiserne Tür und trat in den Kirchenraum. Da entdeckte er einen Plastikstuhl, ganz nahe am Eingang, und etwas, das darauf lag. Er wusste, was es war, und erschrak: Ein Gürtel, befüllt mit Sprengstoff. Jemand musste ihn dort hingelegt haben. Damit er explodiert, sobald sich die Kirchentüre öffnet, und möglichst viele mit in den Tod gerissen werden.
Bomben und Sprengsätze
Es war nur Glück, dass dieser Plan nicht aufging und der Sprengsatz nicht in die Luft ging. Pfarrer Daniel lebt. Er lebt, und mit ihm lebt die Hoffnung auf einen Neuanfang in den Städten und Dörfern der Ninive-Ebene. Orte wie Bashiqa sind kaum 20, 30 Kilometer entfernt von Mossul, der früheren Millionenstadt, die heute zu weiten Teilen in Trümmern liegt. Die Ninive-Ebene im heutigen Irak liegt im Ursprungsland der Christen. Deren Sprache, das Aramäische, ist die Sprache Jesu, und die assyrische Schrift ist uralt. Im nahen Mossul hat sich der Islamische Staat eines seiner Machtzentren aufgebaut. Anfang Juli 2014, zu Beginn des Fastenmonats Ramadan, trat hier der IS-Führer al-Baghdadi vor seine Anhänger in der Großen Moschee und verkündete, dass von nun an das Kalifat ausgerufen sei und alle Welt ihm, dem großen Kalifen, zu dienen habe.
Zerstörte Städte. Foto: Christian Selbherr
„Innerhalb von wenigen Tagen kamen 100 000 Flüchtlinge zu uns“, erinnert sich Stephen Rasche. Der US-Amerikaner arbeitet für die chaldäisch-katholische Erzdiözese in Erbil, der Hauptstadt der Region Kurdistan. Die Kirche war es, die die Neuankömmlinge mit dem Nötigsten versorgte.
Die Menschen schliefen in Kirchengebäuden und in Gemeindesälen, oder zelteten auf offenem Feld. Andere kamen bei Verwandten unter. „Dann mieteten wir mehrere Apartments für sie“, sagt Stephen Rasche. Für etwa 30000 dieser Flüchtlinge zahlte die Kirche die Unterkunft. Im christlich geprägten Stadtviertel Ankawa entstand außerdem ein großes Flüchtlingslager, in dem bis heute vor allem Christen leben.
Sie fühlen sich von der UNO und dem Rest der Welt im Stich gelassen
„Ohne die Hilfe der Kirche hätten diese Menschen nicht überlebt,“ sagt Stephen Rasche und er übertreibt nicht. Denn in den Wirren des schnellen Eroberungszuges durch den IS waren internationale Institutionen wie die UNO mit der großen Zahl an Hilfesuchenden schlichtweg überfordert. Vom IS flohen Muslime genauso wie Minderheitenvölker, etwa die Christen und Jesiden. „Da dachte man wohl: Die Christen bekommen ja schon genug Hilfe,“ beschreibt Stephen Rasche seine Erfahrung.
In der Tat sind die Kirchen und ihre Oberhäupter wichtige Identifikationsfiguren. „Wenn die Menschen sehen, dass ich wieder zurückgehe, dann tun sie das auch,“ sagt zum Beispiel Jacques Ishak Saleba. Auch er als früherer chaldäischer Bischof musste vor dem IS fliehen.
Seine Stadt Karakosch, zwischen Erbil und Mossul gelegen, ist die größte noch verbliebene Stadt des Irak mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung – wenn die Menschen sich denn wieder hier ansiedeln können. „Ich sehe die Chancen bei 50 zu 50“, sagt Stephen Rasche aus Erbil. Bischof Ishak jedenfalls wird demnächst wieder in sein Bischofshaus zurückkehren.
Journalist Christian Selbherr unterwegs für Missio im Irak (links). Foto: Christian Selbherr
Aber noch ist es nicht so weit, wie ein Besuch dort zeigt. „Alles haben sie geraubt,“ sagt der 79-Jährige. Er besaß eine große Bibliothek – Werke in Englisch, in Arabisch, in Aramäisch. „Auch ich selbst habe 22 Bücher veröffentlicht“, sagt Bischof Ishak. Jetzt sind alle Möbel weg, alle Bücher wurden aus den Regalen gerissen und vermutlich verbrannt.
Dafür beschmierten die Eindringlinge die Wände des Bischofshauses. „Lang lebe das Kalifat!“ – „Lang lebe unser Kalif!“. Sogar die Umrisse der IS-Flagge kritzelten sie an die Wand. Während Bischof Ishak durch die verlassenen Räume geht, schüttelt er nur den Kopf. „Aber wie gesagt: Ich komme zurück.“
„Der Irak braucht uns Christen doch mehr denn je“
Die Kirchenvertreter wollen die Hoffnung auf einen neuen Anfang nach der Katastrophe unter allen Umständen am Leben erhalten.
Aber nicht nur das. „Nicht nur wir Christen brauchen den Irak“, sagt der assyrische Erzdiakon Emanuel Youkhana. Er ist überzeugt: „Mehr denn je braucht der Irak uns Christen!“ Emanuel Youkhana leitet die Organisation CAPNI („Christian Aid Program Northern Iraq“), die er schon zu Zeiten von Saddam Hussein in den 1990er-Jahren gegründet hat. „Wo andere Mauern bauen, da können wir Christen Brücken bauen,“ betont er.
Und das sind keine leeren Worte, denn CAPNI hat bereits 300 Häuser in der Ninive-Ebene wieder aufbauen können. Die Organisation betreibt Kindergärten und Schulen, kümmert sich um eine medizinische Versorgung. Davon profitieren alle, nicht nur die Christen. Der Irak brauche die Vielfalt der Kulturen und Religionen, sagen sie bei CAPNI. „Sonst gibt es am Ende nur eine Farbe: Schwarz.“ Die Farbe des Islamischen Staates.
Emanuel Youkhana weiß: Wer geflohen ist und wieder in die Heimat zurück möchte, hat ganz konkrete Fragen, von denen die Entscheidung zur Rückkehr abhängt. Gibt es Arbeit, kann ich Geld verdienen? Können meine Kinder irgendwo in die Schule gehen? Was mache ich, wenn jemand krank wird? „Und,“ sagt Emanuel Youkhana, „sie fragen immer wieder: Werden wir in Sicherheit leben können?“
Die ungelöste Kurdenfrage birgt neue Gefahren für die Christen
Die Region Kurdistan stimmte in einem Referendum im September 2017 für die Unabhängigkeit, aber die Zentralregierung in Bagdad machte schnell klar, dass sie dieses Ergebnis nicht akzeptieren werde. Bagdad verlangte die Kontrolle über die Ninive-Ebene zurück. Während sich anderswo die Kurden sofort zurückzogen und kampflos an die irakische Armee übergaben, geriet die kleine Stadt Teleskof unter Beschuss. Zwei Jungen im Alter von zwölf und 14 Jahren wurden durch Granaten der irakischen Armee verletzt – und eilig verließen mehr als 400 Familien erneut ihre Stadt, in die sie sich gerade erst zurückgewagt hatten.
Die Zerstörung ist groß. Foto: Christian Selbherr
Das sei ein großer Fehler der Regierung in Bagdad gewesen, sagt Emanuel Youkhana von CAPNI. „Sie müssen doch eigentlich genau wissen, dass hier keine ehemaligen IS-Kämpfer leben, sondern dass wir Opfer des IS waren,“ sagt der Erzdiakon. Die Menschen bräuchten ein klares Signal ihrer Regierung: Wir schützen euch, wir garantieren eure Sicherheit. Emanuel Youkhana sagt: „Ich befürchte wirklich, dass die Menschen sonst für immer wegbleiben.“ Dass sie nicht noch einmal aufbauen, sondern vielleicht für immer Flüchtlinge im eigenen Land bleiben – oder eben auswandern nach Europa, Kanada, die USA, wie es schon so viele ihrer Landsleute getan haben.
Viele leben jetzt in Deutschland oder in Amerika, andere noch im Libanon
Niemand kann vorhersagen, was die Zukunft für die irakischen Christen bringt. „Es sind einfach zu viele Akteure im Spiel“, sagt Emanuel Youkhana von CAPNI. „Welche Rolle spielt der Iran? Wie geht der Syrienkrieg aus? Was hat die Türkei vor?“ Auch Stephen Rasche befürchtet manchmal Schlimmes: „Es ist so viel Blut im Wasser. Und es schwimmen so viele große Haie darin herum.“ Aber die Hoffnung bleibt. Emanuel Youkhana sagt: „Solange es auch nur eine christliche Familie gibt, die hier leben will, dann bleiben wir bei ihnen.“