„Wenn ich groß bin, werde ich Seehund“
Christiane Ahlhelm in der Rolle des Kindes mit dem roten Ball – das Kind ist Erzähler und Charakter zugleich. Foto: Anja Gild
Kindertheater in Holzkirchen
Ein roter Ball, eine Schürze, eine Seemannskappe und ein Riesenkrake aus Stoff: Christiane Ahlhelm entführt in einer zauberhaften Theaterinszenierung in die Über- und Unterwasserwelt einer Geschichte, die nur ein Ziel kennt: Seehund sein.
Ein roter Ball, eine Schürze, eine Seemannskappe, ein Ventilator, einige Quallen in der Luft, ein Riesenkrake mit einem kleinen Haus auf dem runden Riesenrücken, ein Seehundsfell – es ist eine Premiere auf der Bühne des Foolstheaters Holzkirchen. Die Premiere eines Theaterstücks, das eigentlich ein Kinderbuch ist. „Wenn ich groß bin, werde ich Seehund“ von Nikolaus Heidelbach.
Ein Mensch, drei Rollen und ein Riesenkrake
Christiane Ahlhelm vom Theater Kunstdünger spielt alleine. Das Kind, den Seemann, die Mutter. Sie ist eine Perfektionistin. Muss sie auch sein. Wer drei Charaktere spielt und mit minimalen Utensilien von der einen Gedankenwelt in eine andere wechselt, kann nichts, aber auch gar nichts, dem lässigen Zufall überlassen. Dabei wirkt ihr Spiel so leicht, so spielerisch, so verführerisch für Auge, Ohr und Fantasie.
Sie hält die Spannung durch clownesk überspitzte Geste und Mimik, durch das Hin und Her zwischen leisem und temperamentvollem Spiel. Jeder Handgriff im Umgang mit den Utensilien sitzt und gerade deshalb erspielt sie eine Welt, die wir Zuschauer sofort verstehen: Der rote Ball – das Kind, die Schürze – die Mutter, die Seemannskappe – der Vater.
Im Angesicht der Riesenkrake – auf der Suche nach der Mutter, die sich zum Seehund verwandelt hat. Foto: Anja Gild
Welten über und unter Wasser – auf der Bühne ein Kinderspiel
Und der Riesenkrake inmitten der Bühne. Das schlafende überdimensionale Stofftier mit seinen langen Tentakeln und dem kleinen Haus auf seinem Rücken – mal hebt der Krake sich und lässt das Kind unter sich von der Welt über Wasser in die Welt unter Wasser gleiten. In die Welt der Neunaugen, Tintenprinzen, Meertrolle und Heringskönige. In eine Welt, die die sanftmütige Mutter abends in Versen erzählt – die sie so genau kennt, obwohl sie niemals ins Wasser geht. Mal schmiegt sich das Kind in die Arme der Krake und wickelt sich ein wie in eine Bettdecke. Mal sind die Tentakel das Wohnzimmersofa, dann wieder Riesenkrakenarme. Der Krake hat nichts Bedrohliches. Obwohl er die Hälfte der Bühne ausfüllt. Er erscheint so still und zart. So groß und doch so unauffällig, dass die kleinen Stofffischchen, die zu Beginn der Vorführung auf den Schuhspitzen der Schauspielerin balancieren, ganz und gar die Aufmerksamkeit des ausverkauften Zuschauerraumes auf sich ziehen.
Fischgleich, ohne je Schwimmen gelernt zu haben
Und die hauchzarten Quallen, unsichtbar aufgefädelt und aufgezogen in die Höhe. Natürlich, jetzt sind wir unter Wasser. Und dann der Vater, ein echtes Nordlicht, ein rauhbeiniger, lebenslustiger Seemann mit Leib und Seele, ein Fischer mit Kutter und Netz – sein Leintuch-Segel flattert im Wind des großen Ventilators. Natürlich, wir fühlen den Sturm und riechen die Meeresluft. Und dann das Kind, das jeden Tag ins Wasser taucht, sich fischartig bewegt, obwohl es nie schwimmen gelernt hat – zwischen all den Fischen, die an Schnüren von Christiane Ahlhelm durch die Luft gezogen werden. Natürlich, wir tauchen mit, hören das Gurgeln des Wassers, sehen das Schimmern der blau-grünen Lichtreflexe, die die Sonne weit über uns ins Wasser malt. Natürlich…
Der Vater, ein Seemann wie aus dem Bilderbuch – in der steifen Brise des Ventilators. Foto: TOBEL
Weniger ist mehr – der Zauber des Spiels liegt in der Reduktion
Nichts lenkt ab von der eigentlichen Geschichte. Von einer Sprache, die teilweise in Versen vorgetragen, durchaus anspruchsvoll ist. Die wenigen Elemente ziehen sich wie rote Fäden durch die Inszenierung. Sie bieten Struktur und Orientierung, während die Schauspielerin zwischen den Rollen und Über- und Unterwasserwelten mühelos meandert. Licht und Klang, Farben und Musik helfen Klein und Groß zu verstehen, wer sich gerade in welcher Welt befindet. Ahlhelm greift bei der Umsetzung des Kinderbuches ins Kindertheater auf die Erfahrungen eines eingespielten Teams zurück: Michl Thorbecke führt (wie bei vielen anderen Stücken) Regie, das Bühnenbild trägt die Handschrift der Künstlerin Sybille Kobus (sie ist mit Christiane Ahlhelm auch mitverantwortlich für die Theaterfassung), für die Kostüme ist Barbara Büntig zuständig und die Musik hat Annegret Enderle arrangiert und eingespielt.
Wenn eine Frau zum Seehund wird
Das Kunstdünger-Team versteht es, eine Geschichte auf die Bühne zu zaubern, die 2012 für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war. Nicht zuletzt wegen der außergewöhnlich fantasievollen und künstlerischen Ausgestaltung der Bilder im Kinderbuch. Und vor allem wegen der Geschichte selbst – einer Geschichte, die überrascht und die gar nicht ganz so unbeschwert zu sein scheint: Die Mutter erzählt dem Kind träumerisch von den Unterwasserwelten. Das Kind kennt nur eine Leidenschaft: das Meer. Eines Tages sieht das Kind, wie der Vater nachts etwas glänzend Öliges aus dem Schuppen holt, dem Ort, an dem sich die Mutter gerne aufhält. Er trägt etwas im Schein der Taschenlampe und versteckt es im Bettkasten. Als er mal wieder auf See ist, sucht das Kind und findet ein Seehundsfell. Es spielt damit, denkt, der Vater sei ein Seehund.
Das Kind, der Seehund, über Wasser, unter Wasser: Hannah Schröder hat das Plakat zum Theaterstück gestaltet
Der Zuschauer geht mit dem Kind auf eine Entdeckungsreise. Wer verbirgt sich hinter dem Fell? Der Vater? Die Mutter? Doch dann verschwindet die Mutter. Mit ihr das Fell. Sie kommt nicht mehr wieder. Sie verlässt die Familie. Das Kind ruft sie. Kein Widerhall. Aber mehrmals in der Woche liegen zwei Makrelen am Strand, ganz nah beim Haus, wo Kind und Vater weiterleben.
Der Autor greift in die Zauberwelt der irischen und schottischen Mythen: Demnach gibt es Frauen, die eigentlich Seehunde sind, die an Land gehen, ihr Fell abstreifen und Menschen werden. Das Fell hüten sie wie einen Schatz, damit sie wieder zurück ins Meer können, wenn sie genug Mensch gewesen sind. Die Mutter ist weg. Ein kleiner Moment von Trauer, der Vater nimmt sein Kind liebevoll in die Arme, ganz fest. Er wird Vater und Mutter in einer Person. Und das Kind beweist eine große Portion Zuversicht und liebevoller Sehnsucht: „Wenn ich groß bin, werde ich Seehund“.