Macht erwächst aus der Ohnmacht der Andersdenkenden
Christoph von Fircks: „Grenzverletzungen“. Foto: Petra Kurbjuhn
Widerstand und Anpassung, Rückgrat und Feigheit, das sind die allgemeingültigen Themen der Erzählung „Grenzverletzungen“. Christoph von Fircks beschreibt eindringlich anhand eines realen Falles das ambivalente Verhalten der Menschen in der DDR.
Neuerscheinung auf dem Buchmarkt
Auch 27 Jahre nach dem Ende der DDR ist das Thema spannend und auch für die heutige Zeit relevant: Wie kann man sich dem totalitären Staat widersetzen? Und wie ergeht es Mitläufern und denjenigen, die sich voll dem System ausliefern?
Der Autor hat die literarische Form des Monologs gewählt, um aus der Sicht des Erzählers die eigenen Widersprüche aufzudecken. Er trifft sich mit Bernhard am Rande einer Konferenz, bei der dieser einen Vortrag hält. Sie sitzen in einem Café. Bernhard will, so geht aus dem Anfang der Geschichte hervor, alles über Gotthold wissen, den gemeinsamen Kommilitonen, damals beim Studium an der Bergakademie Freiberg in den sechziger Jahren.
Dort, wo sie alles aufbewahren
Und es sprudelt aus dem Ich-Erzähler nur so heraus. In ihm muss es seit dieser Zeit gegärt haben, müssen die Ereignisse, an denen er nicht unbeteiligt war, tiefe Spuren hinterlassen haben. Und so kommt alles zutage. Die eigene Verletzung, von Bernhard, dem Älteren, mit Nichtachtung gestraft zu werden. Die Freundschaft zu Gotthold, dem etwas Merkwürdigen mit der kreisrunden Kassenbrille, der abseits bei der Tante wohnte, nicht im Studentenwohnheim, Gotthold, dem der Erzähler beim Ernteeinsatz in Mecklenburg, Pflichtprogramm für die Studenten der damaligen Zeit, näher kam, der ihm von seinen Sehnsüchten erzählt, sich öffnet.
Gotthold, der tiefgründig ist, der solche Fragen stellt, wie, ob man in einem anderen Land ein anderer Mensch wäre. Und der in den Seminaren des Marxismus-Leninismus den Dozenten mit seinem profunden Wissen der Philosophie zur Weißglut brachte. Der sich sogar dem Professor widersetzte, der ihm zwar Anerkennung aussprach, gleichzeitig aber betonte, dass diese Gratwanderung gefährlich sei. Und sicher, so sagt der Ich-Erzähler, sei dies alles aufbewahrt worden, „dort, wo sie alles aufbewahren“.
Wie steht es mit der Ehrlichkeit?
Gotthold, der Stellung bezog, der Hilfe anbot und Hilfe leistete und der sich in dasselbe Mädchen verliebte wie der Erzähler, nur dass dieser auf Gegenliebe stieß. Und der offen über seine Idee des Doppelpendels mit Bernhard im Praktikum sprach, die Idee, die Bernhard später zu Diplomarbeit und Dissertation verarbeitete.
Wie steht es mit der Ehrlichkeit? Warum verschwieg der Erzähler seine Beziehung zu Maria vor Gotthold? Und warum bemächtigte sich Bernhard der fremden Federn? In wieweit haben sie beide Schuld an dem, was dann passierte? Zweimal verrät der Erzähler seinen Freund aus Feigheit, aus Angst vor Repressalien. Aber was sagte Gotthold: Macht erwachse immer aus der Ohnmacht der Andersdenkenden. Sind sie wirklich ohnmächtig? Wie viel Mut gehört dazu sich zu widersetzen? Wie verändert sich das eigene Leben durch eine kompromisslose Haltung? Und welchen Rucksack tragen diejenigen mit sich herum, die Verrat üben? Wie viel Wert hat das angepasste Leben?
Christoph von Fircks. Foto: KN
Christoph von Fircks gibt keine einfachen Antworten auf diese Fragen, er überlässt es dem Leser, sich anhand des Schicksals der drei Protagonisten ein eigenes Urteil zu bilden. Sachkundig analysiert der Autor, der selbst an der Bergakademie studierte, die Zerrissenheit der Menschen in einer Diktatur. Neben seiner Berufstätigkeit schreibt er bereits seit dieser Zeit, zunächst Gedichte und Kurzgeschichten, später Kinder- und Sachbücher und Erzählungen in Anthologien. „Grenzverletzungen“ schrieb er in der Wendezeit. Die Köpfe auf dem Titelbild fertigte er selbst aus Steinen.