Verantwortung in Krisenzeiten
Buchcover. Foto: MZ
Lesetipp von KulturVision
„Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter. Verantwortung in Krisenzeiten“ nennt Meinhard Miegel sein aktuelles Buch, erschienen im oekom Verlag. Es vereint monatliche Essays von 2017 bis 2020, in denen er jeweils Stellung zum aktuellen Weltgeschehen nimmt und für eine Erneuerung der Kultur wirbt.
Nicht umsonst hat der bekannte Soziologe die Stiftung für kulturelle Erneuerung gegründet, mit der er Wissenschaft, Religion und Kultur verbinden möchte. Seit vielen Jahren hat der Wissenschaftler immer wieder wie ein Rufer in der Wüste vor Egoismus, Gier, Ausbeutung, Raubbau der Natur, Ungerechtigkeit gewarnt. Im Gegensatz zu vielen anderen Kritikern des Zeitgeistes macht er aber nicht das System primär verantwortlich, sondern die Gleichgültigkeit oder sogar Unfähigkeit des Menschen gegenüber dem, was dringend notwendig wäre zu tun.
Lesetipp: Warum wir nicht tun, was wir für richtig halten
Splitter der Unordnung unserer gegenwärtigen Welt nennt er in seinem Vorwort die Sammlung seiner Gedanken der vergangenen drei Jahre. „Sie sollen Anlass sein, über Bestehendes nachzudenken und Mut für Künftiges zu machen. Denn das Leben geht weiter.“
Die Veränderungen seien schleichend gekommen, wie so oft, wenn eine Epoche zu Ende geht, sagt Meinhard Miegel. Und nicht das System habe Schuld, denn das System sei menschengemacht und deshalb trage auch das Gemeinwesen die Verantwortung. Der Mensch habe durch die irrige Idee, dass die Mehrung der Güter glücklich mache, die heutige Situation in der Welt erzeugt, sei aber nicht bereit trotz Erkenntnis, seinen Lebensstil zu ändern. Zudem begünstige das System die Ungerechtigkeit, sodass sich Minderheiten auf Kosten der Mehrheit bereichern können.
Meinhard Miegel. Foto: Ines Wagner
Am 3. November wählen die Amerikaner ihren neuen Präsidenten. Meinhard Miegel hat dazu einen wichtigen Hinweis. Er charakterisierte im Januar 2017 Donald Trump so: „Er sagt, was er denkt und tut, was er sagt“. Unverblümt würde dieser Mann krassen Egoismus zelebrieren und deutlich machen, dass nur der Deal zählt und ethische Normen, sowie Wissenschaft und Kunst überflüssig seien. Man müsse ihm eigentlich dankbar sein, dass er das mit Zynismus und Brutalität so deutlich ausdrücke.
In seinen weiteren Gedanken schreibt Meinhard Miegel über die Angst der Menschen, Wohlstandseinbußen zu erleiden ebenso wie er eine politische Debatte fordert, zu den Grenzen zurückzukehren, die uns die endliche Erde aufzeigt. Und er fragt, was die oft zitierte Bildung wirklich ist. Wissen? Oder vielmehr Fairness, Mitmenschlichkeit, Anstand und Gemeinsinn?
Pausen der Betrachtung
Um nachzudenken aber braucht es Zeit. Und diese hat der Einzelne nicht oder meint sie nicht zu haben. Dabei, so Meinhard Miegel, fehle es ihm nur am Geschick mit ihr umzugehen und so plädiert er für Pausen. Für Pausen der Betrachtung, was durch Schaffen, Streben und Gestalten entstanden ist. Dabei komme vielleicht auch die Einsicht, dass vieles Geschaffene doch recht flüchtig und nichtig sei. Was, so fragt der Autor, werde denn einmal von unserer Generation an Wesesentlichem übrigbleiben?
Der Soziologe hat sich auch dem Gegenstand der Demokratie als Herrschaft des Volkes gewidmet. Er drückt es klar aus: „Demokratie und Privilegien schließen einander aus.“ Und doch erschleiche sich so mancher Vorteile, bis hin zur Korruption. Dagegen wendet sich Meinhard Miegel vehement und fordert stattdessen eine Kultur des Teilens, wobei er direkt die eher Begünstigten anspricht.
Lesetipp: Meinhard Miegel „Gedanken im Mai“
Die monatlichen Gedanken zur Verantwortung in Krisenzeiten von Meinhard Miegel enden im Juni 2020. Im April ruft er zum Innehalten als Mittel der Heilung auf, um im Mai verständnislos zu konstatieren, dass vielen jetzt nichts besseres einfalle als dort weiterzumachen, wo die Pandemie zum Nachdenken einlud. Er geißelt Zukunftsblindheit und fehlenden Gestaltungswillen. Die Gesellschaft sei von Sinnen, schreibt er. Anstatt zu prüfen, ob es mit etwas weniger auch weitergehen könne, rufe man nach Wachstum. „Die Welt wird nach dieser Heimsuchung keine andere sein“, konstatiert er.
Aufruf zu lustvollem Verzicht
In seinem Schlusswort erteilt der Autor dem Slogan „Glück durch materiellen Wohlstand“ eine eindeutige Absage und ruft stattdessen zu lustvollem Verzicht auf, zur Befreiung von Überflüssigem. Wenn sich der Mensch dann noch in der Gemeinschaft einbringe und sich Reichtum durch den Genuss von Kunst und Kultur verschaffe, dann könne die heute lebende Generation etwas Neues gestalten. Das alte System ist am Ende, aber es gibt eine Chance für eine Erneuerung der Kultur.
Damit sind die Gedanken Meinhard Miegels keineswegs nur Kassandrarufe, unheilverkündend und ungehört verhallend, sie sind vielmehr ein Aufruf zum Innehalten und Nachdenken. Sie ermuntern in vielfältiger Weise den Leser, seinen Lebensstil zu überdenken und sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Wie wäre es mit Glück durch immateriellen Wohlstand? „Glück durch die Entfaltung von Kräften, die heute bei vielen Menschen brachliegen.“