Inne halten

Der europäische Traum und Gemeinsinn

Cover des Buches „Inne halten. Chronik einer Krise“. Foto: Petra Kurbjuhn

Buchtipp von KulturVision

Das vierte Gespräch im Buch „Inne halten. Chronik einer Krise“, führt Initiator Jonas Zipf mit Aleida Assmann über Europa, Erinnerungskultur und die Bedeutung der Kultur in den gegenwärtigen Prozessen.

Aleida Assmann befasst sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit dem kulturellen Gedächtnis, mit Erinnerung und Vergessen. Jonas Zipf, Werkleiter von JenaKultur, knüpft an ihr Buch „Der europäische Traum“ an, in dem die Autorin betont, dass es zur Konstitution der Gemeinschaft gemeinsame kulturelle Praktiken und Rituale braucht, beispielsweise auch einen gemeinsamen Feiertag.

Ob denn durch Corona diese europäische Gemeinschaft in Gefahr sei? Im Gegenteil, sagt Aleida Assmann. Corona lehre, dass wir auf Gegenseitigkeit angewiesen seien, einer Gegenseitigkeit, die letztlich auf dem einigenden Band der Wirtschaft beruhe. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in der Krise habe gezeigt, wie wichtig den Menschen doch diese grenzüberschreitende Freiheit in Europa sei, meint Jonas Zipf.

Kein Diskurs im virtuellen Raum möglich

Wichtig dafür sei auch ein grenzüberschreitender Diskurs, betont der Jenaer. Dieser aber finde derzeit nicht statt, da Begegnungen nur noch virtuell möglich seien und eine schmerzliche Lücke hinterließen. Dies bestätigt Aleida Assmann, im virtuellen Diskursraum komme man nicht weiter, es finde kein Prozess statt, in dem man gemeinsam weiterdenken kann. Wenn alles auf Effizienz verkürzt wird, „werden wir irgendwann zu reinen Informationseinheitsträgern und Austauscheinheiten“, befürchtet Jonas Zipf.

Die Wissenschaft mache das Prozesshafte jetzt gerade vor, argumentiert seine Gesprächspartnerin. Einerseits bemühe sie sich um die Wahrheitsfindung und andererseits zeige sie in aller Öffentlichkeit auch das ständige Hinterfragen der vorliegenden Ergebnisse samt Korrekturen. Damit sei Wissenschaft das Gegenteil von Politik, dort müsse klare Kante gezeigt werden.

Prozessrhythmen

Jonas Zipf beschreibt einen Ansatz in dem Buch „Der europäische Traum“, dass es in Prozessen Rhythmen gebe, Phasen des Sprechens und des Schweigens, des Agierens und des Ruhens. Aber während des Schwelens passiere dennoch etwas, das sich dann später Bahn breche.

Ein wichtiger Punkt in der Bewertung politischer Vorgänge sei auch, so Aleida Assmann, was wir als Außenstehende von den Vorgängen wirklich mitbekommen. Die Medien berichten nur über die lauten Ereignisse, was aber sonst noch passiere, im Hintergrund, das erfahren wir nicht. Und deshalb sei der offene Diskurs außerhalb der Medien so wichtig.

Vertrauen und Gemeinsinn

Diese Frage habe ihn auch bei der Behandlung der NSU-Prozesse interessiert, sagt Jonas Zipf. Denn da habe es einen massiven Vertrauensverlust der Betroffenen gegenüber den staatlichen Institutionen gegeben. Eigne sich überhaupt der Staat als Moderator für die Gedenkkultur? Eigentlich sei es die Zivilgesellschaft, die das Sprechen und Gedenken aufrecht gehalten hätten.

Die Frage sei jetzt, ob man Vertrauen und Gemeinsinn in einer offenen Gesellschaft stärke oder ob es deren Gegnern gelänge, in ein Klima der Angst und Bedrohlichkeit zu drängen.

Gegengewicht zu rechten Demonstrationen

An diesem Scheidweg müsse es ein Gegengewicht zu rechten Demonstrationen geben, sagt Jonas Zipf. In Jena habe sich eine Bürgerinitiative gegründet, die immer am 9. November, wenn sich rechte Gruppierungen versammeln, eine große Gegendemonstration anmeldet und mit Musik an allen Stolpersteinen der Stadt ein gelebtes Ritual gedenkkultureller Praxis zeigt.

Die Städte und Kommunen müssen als Zentren solcher Erinnerungskultur fungieren, betont Aleida Assmann und zwar in Gemeinschaft aller Akteure, Politiker, Geschäfte, Mittelstand, Alt und Jung. Das müsse von unten kommen. Und dabei spiele die Kultur eine bedeutsame Rolle, bekräftigt Jonas Zipf. Im Falle der Aufarbeitung der NSU-Prozesse habe es in den beteiligten 13 Städten und Theatern eine gemeinsame künstlerische Übersetzung des Themas gegeben.

Austausch über die Kommunen

Diese Solidaritätsallianz müsse aus dem Osten weiter nach Westen gehen, sagt Aleida Assmann und wünscht sich ein ähnliches Sich-Autauschen über die Geschichte der letzten 30 Jahre seit der Wende. Wie könne man daraus in eine gemeinsame Zukunft gehen? Dieser Austausch könne über die Kommunen aufgenommen werden.

Zum Weiterlesen: Vor Autos spielen oder nicht

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