Ein Fremder führt Fremde in einem fremden Land…
Autor von „Der Fremdenführer“ Siavash Sartipi. Foto: MZ
Neuerscheinung auf dem Buchmarkt
Der Roman „Der Fremdenführer“ beginnt leichtfüßig, unterhaltsam, aber auch tiefgründig. Und dann kommt der Bruch, die Perspektive ändert sich, die Zerrissenheit des Protagonisten wird spürbar. Der Rottacher Autor Siavash Sartipi erzählt im Interview über sein Leben und erläutert seine Beweggründe.
MZ: Herr Sartipi, Sie wurden 1968 im Iran geboren und wohnen jetzt mit Ihrer Familie am Tegernsee. Wie kam es dazu?
SS: Mein Vater war Großgrundbesitzer und die Familie musste nach der islamischen Revolution 1978/79 aus Tabriz fliehen. Vater und Bruder wurden verhaftet und waren jahrelang im Gefängnis. Ich hatte im Gymnasium in Teheran Repressalien auszustehen. Dann kam der Iran-Irak-Krieg mit ständigen Bombardements, Auspeitschungen, Hinrichtungen und Unsicherheit. Ich habe französische Literatur studiert, aber erkannt, im Iran kann ich nichts ausrichten, ich muss raus. 1995 bin ich mit gefälschtem Pass zu Fuß in die Türkei geflohen und von dort nach Frankfurt.
MZ: Und dort wurden Sie dann Fremdenführer wie ihr Protagonist Assad.
SS: Zuerst musste ich Deutsch lernen. Mein Asylantrag war erfolgreich, ich habe die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Wie Assad im Roman habe ich Nachtschichten im Hotel gemacht, gejobbt und als Redakteur gearbeitet. Später dann als Fremdenführer für ausländische Reisegruppen.
„Ich habe die Kühe vermisst“
MZ: Und warum sind sie dann nach Bayern gekommen?
SS: Ich habe die Kühe vermisst. Ich liebe den Geruch vom Bauernhof und ich liebe die Naturlandschaft. Hier wohne ich mit meiner Frau Elena, sie ist Ukrainerin und arbeitet bei München hilft Ukraine e.V. Ich bin Fremdenführer in München.
MZ: Ihr Debütroman beschreibt das Leben eines Fremdenführers. Mir hat der Satz gefallen: „Ich bin ein Fremder, der Fremden in einem fremden Land in fremden Sprachen eine ihm fremde Geschichte erzählt.“ Ihr Protagonist Assad ist sehr gebildet, spricht mehrere Sprachen und setzt sich intensiv und sehr kritisch mit dem Islam auseinander. Er kennt sich in persischer wie in europäischer Literatur bestens aus. Der Lesende taucht in sein Leben ein. Dann aber kommt der Bruch. Im zweiten Teil findet ein Perspektivwechsel statt, aus Assad wird Siavash.
SS: Das war keine bewusste Entscheidung. Die Frage war, wonach hat Assad gesucht. Er hatte Freundschaften, Liebschaften, ein berufliches Leben und die Literatur. Aber er ist nicht angekommen. Er beginnt mit seinem im Iran ermordeten Freund Mohammed zu sprechen und sieht dabei auf die Hochhäuser Frankfurts. Und er fragt, wie weit muss ich gehen, um die persische Liebe zu finden. Es ist das Fremde, was sich durch alle Seiten zieht. Zum Beispiel, dass Assad nicht in die USA reisen darf, weil er vielleicht ein Schläfer ist.
„Der Fremdenführer“ zwischen 1001 Nacht und Hemingway. Foto: MZ
MZ: Ich habe den ersten Teil sehr gern gelesen, er hat mir tiefe Einblicke in die Gedankenwelt Assads, was seine Heimat und seine Kultur anbelangt, geschenkt. Der zweite Teil ist völlig anders, der Lesende taucht ein in die Zerrissenheit des Fremden, der Halt in Arbeit und in Liebe sucht. Wo aber Identitäten zusammenbrechen und dadurch auch die Realität verschwimmt. Warum haben Sie längere Passagen auf Englisch geschrieben?
SS: Das Englische ist fremd. Ich wollte, dass die Leser spüren, was es bedeutet, eine fremde Sprache vorzufinden.
MZ: Ich hatte Probleme bei den Passagen, in denen Assad oder dann doch nach der Transformation Siavash Kokain schnupft.
SS: Der Autor soll authentisch schreiben. Man denkt nicht daran, ob es der Lesende mag oder nicht. Am besten ist man im Flow und ich halte es mit Kundera, der gesagt hat: Wo Philosophie und Wissenschaft aufhören, fängt die Literatur an. Es ist eine ehrliche Darstellung der Auseinandersetzung mit Liebe, Sex, Tod, Identität und Heimat.
Die ethische Frage
MZ: Hat der Autor nicht auch eine moralische Pflicht?
SS: Ich habe mir immer wieder die ethische Frage gestellt. Die ersten Kapitel des Buches sind über 20 Jahre alt, die letzten Kapitel habe ich 2008 in vier oder fünf Monaten geschrieben und dann in Corona immer wieder reingeschaut und auch eine Lektorin engagiert. Ich meine, Drogen sind überall und die Jugendlichen müssen vorbereitet sein.
MZ: Auffallend ist, wie die rüde Sprache mancher Sexszenen im ersten Teil zu einer ganz anderen Sprache im zweiten Teil übergeht, wo Olga unerwartet in sein Leben tritt.
SS: Manchmal sieht Assad die Frau so, es ist nicht meine Aufgabe ihn zu erziehen und zu kontrollieren. Ich bin kein Moralprediger. Sein Leben ist so, manchmal auch dreckig. Dann aber kommt Olga und die Sprache wird anders. Er ändert sich und schwankt zwischen heilig und blasphemisch.
Der Fremdenführer. Foto: MZ
MZ: Was mir sehr gefallen hat, das ist Ihre Auseinandersetzung mit dem Islam.
SS: Man soll Vorurteile überwinden. Im Roman werden sehr unterschiedliche Beziehungen zum Islam dargestellt. Der Hauptprotagonist Assad hat eine extrem kritiscche Einstellung, aber er schwankt und identifiziert sich am Ende wieder mit ihm.
MZ: Sie haben viele Jahre an diesem ersten Roman gearbeitet. Wird es einen zweiten geben?
SS: Ich schreibe einen Roman über meine Familie im Iran mit persischen und westlichen Einflüssen in mehreren Bänden. Der erste Teil betrifft meine Kindheit vor der Revolution.
Entfremdung und Dissoziation
Eine Rezension des Romans sollte einem „Fremden“ überlassen sein, der die traumatischen Erlebnisse von Geflüchteten nachvollziehen kann. Deshalb soll das letzte Wort der Deutsch-Iraner Dariush Baradari haben, der den Roman rezensierte:
„Wir haben alle ähnliche traumatische Erlebnisse gehabt, aber der Unterschied war, wie weit wir bereit waren zu gehen, um unsere Fragen in Fragen fortzusetzen. Wie Lacan und Joyce wussten, war nur der Deportierte, der Fremde weiß, dass es im Leben eine Flucht oder Exodus gibt, aber kein Ankommen und kein gelobtes Land. Du kannst dafür aber eine schizophrene Welt, deine ewige Wiederkehr ohne Ankommen, in eine schizoide Welt und Erzählung, in eine Geschichte in Geschichte verwandeln und vielleicht ist das der Weg. Wenn wir als Fremde die Entfremdung und die Dissoziation in uns und unserer Realität erleben und uns und den anderen durch unsere vielschichtige und tragisch-komische Fremdenführung ermöglichen, den Wahn nach letzter Antwort und nach gelobten Land mit ewigem Marsch aufzugeben und in Gegenwart, in Haecceity einzutauchen, die immer Vergangenheit und Zukunft beinhaltet und vielschichtig und leichtfüssig wird.“
Zum Weiterlesen: Grandioser Schlagabtausch und feinste Lyrik