Die Klasse der Schirmflieger
Künstlerin Ingrid Kern (v.l.) mit Kuratorin Ursula Philomena Breitenhuber.
Foto: Ines Wagner
Ausstellung am Tannerhof in Bayrischzell
Seit vielen Jahren beschäftigt sich die Künstlerin und Innenarchitektin Ingrid Kern mit der Natur, und zwar aufs Genauste: Sie sucht und findet, erforscht, zerlegt und sortiert den Mikrokosmos der Fauna und Flora. „Nichts ist vor mir sicher“, sagt sie lächelnd. Und dann lässt sie die Betrachter zunächst einmal raten, was sie da vor sich sehen. Anfangs hat sie damit vor allem Kindern verzaubert, die andächtig und neugierig um sie herum saßen, wenn sie ihre Dias an die Wand warf. Zwischen den Scheiben: Nein, kein Foto. Gegenüber an der Wand: Ein riesiges, luftiges Gebilde aus Linien und Fäden, Körnchen, Punkten und Strichen, mit transparenten Flächen, von Adern durchzogen. Flügel? Ja, vielleicht Flügel. Es könnte eine Riesenschnake sein, und die Pünktchen ein Portiönchen Blütenstaub, der aus den Flügeln gerieselt war. Vielleicht. Vielleicht auch ein Mückenpups. Man kann sich vorstellen, wie Ingrid Kern lächelt und die Kinder weiter raten lässt, ihrer Fantasie freien Lauf lässt.
Freilegen der Strukturen des Wachstums
Nicht minder neugierig und in ihrem Raten fantasievoll waren die Erwachsenen, die am Samstag zur Vernissage von Ingrid Kerns Ausstellung nach Bayrischzell an den Tannerhof kamen. Aber, wie Erwachsene eben sind, beinahe noch mehr interessierte sie das Geheimnis hinter der „Technik“. Wenn es nun weder Aquarelle, noch Fotografien sind, was dann? Kuratorin Ursula Philomena Breitenhuber erläuterte es in ihrer Einführungsrede, die sie gemeinsam mit der Künstlerin Nele von Mengershausen vorbereitet hatte. Sie folgte einem Verweis auf den englischen Botaniker William Henry Fox-Talbott, der 1834 seine Naturstudien vom zeichnerischen Handwerk befreite und sich die Eigenschaften von Licht, Salz und Silber zu nutze machte, um seine botanischen Funde „aufzuzeichnen“. Als Vorläufer der Fotografie gewissermaßen. Er erfand anhand seiner Naturstudien das „photogenische Zeichnen“.
Ohne es anfänglich zu ahnen, war Ingrid Kern den gleichen Weg gegangen, erläuterte Hans-Eberhard Hess, der Herausgeber der „PHOTO international“, der auch zur Vernissage gekommen war. In seiner Zeitschrift ist gerade ein ausführliches Portofolio der Künstlerin und ihrer Arbeiten erschienen. Ingrid Kern arbeitet unmittelbar mit den Naturobjekten, ohne das Verwenden einer Kamera und ohne zu fotografieren. Stattdessen arrangiert sie ihre Miniatur-Objekte sorgfältig zwischen zwei Diascheiben, und belichtet sie direkt auf Fotopapier.
Ingrid Kern und Hans-Eberhard Hess. Foto: Ines Wagner
Und so kommt in der Vergrößerung oft noch ein kleines Geheimnis zutage, denn nicht alles an ihren Naturinszenierungen lässt sich genau im Voraus planen. Und die Betrachter sind beispielsweise verblüfft von den purpurnen Fäden eines der Bilder – es ist Blütenstaub von der Paradiesblume, der eigentlich weiß ist. Erst mit dem Durchleuchten werden die Farbpigmente durch den Lichteinfluss sichtbar.
Ingrid Kern „Nichts ist pure Laune der Natur“
Die floralen Objekte und auch die Miniaturinsekten schweben hauchzart, ihre Farbigkeit und Textur ist von elfenhafter Schönheit. Ingrid Kern hat behutsam den Kern der Natur heraus geschält, die Struktur des Wachstums sichtbar gemacht, den Zauber des Verblühens. Alles wächst um sie herum, im Wald, im Garten, es ist eine Hommage an die Natur, an das Leben. Sie erhöht die banalen Dinge des Alltages, indem sie den Mikrokosmos durchforstet und in einen neuen Kontext stellt. Die Liste ihrer Objekte liest sich wie das „Who is who“ der heimischen Flora und Fauna: Braunelle, Löwenzahn, Mohn, Lindensamen, Schnake, Florfliege, Habergeiß. Ihre Kunst besteht im Sichtbarmachen, im spielerischen Umgang mit der unerschöpflichen Formenvielfalt, im Hervorheben der natürlichen Zusammenhänge von Form, Funktion und Farben. Denn nichts ist eine pure Laune der Natur. Aber alles ist Schönheit. Wie die Klasse der Schirmflieger, die sich losgelöst hat von ihrem Löwenzahnstängel und neuen Zielen entgegenfliegt, neuer Verankerung, neuem Leben.
Ingrid Kern: Algen. Foto: KN