Wallfahrt an den Abgrund der Moral
Vor dem Schlussvorhang zeigen die Darsteller von „Die Wallfahrt“, wie viel Spaß ihnen das unmoralische Treiben auf der Bühne bereitet hat. Foto: Sabiene Hemkes
Die bitterböse Komödie „Die Wallfahrt“ stellt dieser Tage in Schliersee die Moral auf den Kopf. Jenseits von Gut und Böse liefert das wunderbare Ensemble des Schlierseer Bauerntheaters eine herrlich moralfreie Darbietung. Ein „Mia san mia“ in Reinform mit keckem Augenzwinkern.
Zweite Premiere im Schlierseer Bauerntheater
Drei lange Jahre mussten die Freunde des Schlierseer Bauerntheaters darben. Die Pandemie war schuld. Doch 2023 startet das traditionsreiche Laien-Theater samt Ensemble durch. Nach der gefeierten Premiere des „Boandlkramer Blues“ Mitte April stand am Samstagabend die zweite Premiere der Saison auf dem Programm: „Die Wallfahrt“ (1919) von Richard Manz und Afra Schulz.
Der Schlierseer Theater-Nachwuchs empfängt die Gäste schon am Eingang. Foto: Sabiene Hemkes
Ambitioniert für ein Laientheater im kleinen Ort Schliersee, doch hier am See gehört das Bauerntheater seit 130 Jahren zur Dorf-DNA. Das zeigt auch das an einem lauen Sommerabend zahlreich erschienen Dorfbewohner und Gäste und die zahlreich erschiene Lokalprominenz mit den Bürgermeistern und vom Hauptunterstützer des Theaters der Sparkasse.
Ein bitterböser Schwank
Traditionelles bairisches Volkstheater vom Feinsten. Inszeniert von Girgl Floßmann, der auch den fiesen Mesner mimte. Doch mit diesem Charakterzug war er nicht allein. Eigentlich war außer der reizenden, doch durchgängig schlecht behandelten Bedienung Cilli, gespielt von der jungen Antonia Fürst, jede Rolle in diesem Bühnenstück von 1919 durchaus böse angelegt.
Der Mesner (Girgl Floßmann) beginnt sein böses Ränkespiel mit der Heinerin und deren Tochter Marianne. Foto: Sabiene Hemkes
Und wer in seiner Rolle nicht böse ist, der ist zumindest unglaublich einfältig, wie der Großbauernsohn Sohn Tamerl (Martin Hirtreiter) oder die vom Kinderwunsch beseelte todunglückliche Marianne, Frau des Hofwirtes (Hans Schrädler). Von Carolin Schmid herrlich frömmelnd, verzweifelt und fast schon emphatisch in ihrem Leiden auf die Schlierseer Bühne gebracht.
Wo das Hinterhältige Gaudi macht
Dem prächtig aufgelegten Ensemble hat es an diesem Abend ohne Frage einen Heidenspaß bereitet, dem Publikum in drei kurzweiligen Akten, jede Hoffnung auf das Gute und Ehrenhafte im Menschen zu nehmen. Auf dieser Wallfahrt führen alle Wege zu Niedertracht, Egoismus, Raffgier, Standesdünkel und Dummheit. Nur die wie immer virtuos zum gemeinen Treiben aufspielenden Schlierachtaler Musikanten fallen nicht aus der Rolle.
Die Schlierachtaler Musikanten lassen sich von Boshaftigkeit nicht anstecken. Foto: Sabiene Hemkes
Die Geschichte selbst ist schnell erzählt. Der reiche Hofwirt und seine Frau Marianne wünschen sich Kinder. Bekommen aber keine. Was den Ehemann erzürnt, seine Frau in Selbstmordgedanken treibt und die Mama der Unglücklichen zum Verzweifeln bringt. Letztere, die Heinerin – wunderbar skrupellos gespielt von Conny Floßmann – hat eine weitere Tochter: die Emmerenz (Sophia Pfisterer).
Emmerenz auf Wallfahrt geschwängert
Anders als ihre züchtig daherkommende Schwester bereitet das wilde Nesthäkchen der Mama arge Kopfschmerzen. Bandelt sie doch keck mit dem Knecht des Hofes, dem feschen Vestl an. Berechnend und lustvoll gespielt von Marinus Ausfelder, lässt der Knecht schnell erkennen, dass ihm die Mitgift der Emmerenz doch reizvoller ist als das Mädchen selbst.
Der Hofwirt und seine Schwiegermutter schmieden im Geheimen Pläne, um die Schande abzuwenden. Foto: Sabiene Hemkes
Gemeinsam mit dem Papa (Girgl Floßmann), dem allgegenwärtigen Mesner des Ortes, schmiedet der Vestl einen ganz gemeinen Komplott, den sozialen Aufstieg umzusetzen. Immerhin sei sein Sohn „wie geschaffen für den Zeitvertrieb der reichen Bauerntochter“. Und wenn man arm ist, sollte man wenigstens schlau sein. So redet der Mesner, herrlich scheinheilig, der Marianne und ihrer Mutter ein, dass sich der Kinderwunsch wie von selbst erfülle, begebe man sich nur auf Wallfahrt zur lieben Frau von Kramsach Zell.
Der gutmütige Depp merkt’s schon nicht
Den ganzen Tag auf Knien betend hat dann aber die Marianne wohl vergessen auf die Emmerenz bei der Wallfahrt achtzugeben, wie von der Heinerin eindringlich eingefordert. Wieder daheim ist Marianne noch unglücklicher als zuvor. Den erbetenen Kindersegen gabs zwar, aber der wurde dank der tatkräftigen Hilfe des heimlich mitgereisten Vestl der kleinen Schwester zuteil.
Die große Liebe? Der Vestl und die Emmerenz teilen mitnichten die gleichen Absichten. Foto: Sabiene Hemkes
Doch, statt sich nun in die Arme des Geliebten zu werfen, stimmt die hochmütige junge Frau dem Komplott von Mutter und Schwager zu. Sie wollen das Ungeborene dem Tamerl unterjubeln, dem die junge Frau schon versprochen ist. Sehr zum Unmut des durchtriebenen Vestls und seines ach so empörten Vaters. Der Standesdünkel im Hause des Hofwirtes kennt keine Ausnahmen: „Wie ich weiß, haben wir die Knechte und Mägde immer draußen im Stall gehabt, wo sie hingehören“, stellt der Hausherr klar.
Das ganze Leben in der Wirtsstube
Gesagt, getan. Das naive und völlig unbedarfte Vatersöhnchen des Großbauern wird beim Besuch der Wirtsleute mit viel Wein scheinbar gefügig gemacht. Die Emmerenz wartet derweil sehnlichst in ihrer Kammer auf den Unbedarften. Scheinbar gelingt die List.
Der Mesner und der Hofwirt füllen gemeinsam den Tamerl ab. Foto: Sabiene Hemkes
Vier Wochen vor der geplanten Großhochzeit vom Tamerl und seiner Braut vom Hofwirt startet der dritte Akt – wie alle Aufzüge im Stück in der Wirtsstube, die wieder einmal das Schlierseer Bühnen-Urgestein Georg Attlfellner wunderbar ganz klassisch in Szene gesetzt hat. Simon Pertl und Simon Grawer sorgen im Hintergrund gewohnt professionell für den richtigen Ton und die Beleuchtung während der Aufführung. „Die Wallfahrt“ zieht ins große Finale.
Das Scheitern der Strippenzieher
Ohne zu viel vorwegzunehmen, denn Sie alle sollen sich im Theater selbst überraschen lassen, hat es der letzte Akt in sich. Die Strippenzieher waren aktiv. Der Mesner und sein Sohn haben sich keineswegs geschlagen gegeben angesichts der sich anbahnenden Vermählung. Und auch die reichen Wirtsleute waren nicht untätig. Die Heinerin und der Hofwirt haben Emmerenz kurzerhand nach einem angeblichen Treppensturz aus dem Weg, ins städtische Krankenhaus verfrachtet.
In der Wirtsstube brennt die Luft. Der Hofwirt streitet mit dem Vestl – die anderen schauen gespannt zu. Foto: Sabiene Hemkes
Wie in einem Krimi wendet sich das Blatt, sehr zur Freude des doch etwas schadenfroh und keineswegs ob der Niedertracht schockierten Premieren-Publikums, von einer Seite auf die andere und zurück. Wunderbar inkorrekt in heutiger Zeit: Eine frauenfeindliche, sozial untragbare, absolut unchristliche, raffgierige und bösartige Komödie:
Dumm und arm ist Gottesstrafe
Kurz: eine herrliche Gaudi für Zuschauer und sichtlich auch für das großartige Ensemble an diesem Abend. Am vergangenen Samstag und in vielen Aufführungen den ganzen Sommer mal lang so richtig über die Stränge schlagen ohne Rücksicht auf die wahre Liebe, Anstand oder Moral – das ist beim Stück „Die Wallfahrt“ nicht nur möglich, sondern ausdrücklich erwünscht.
Girgl Floßmann (links) und Marinus Ausfelder als Vater und Sohn mit bösen Absichten. Foto: Sabiene Hemkes
Auf den Punkt: „Weil wir wir sind, Geld haben und wer sind“, ist die Heinerin überzeugt, doch der durchtriebene Mesner kontert: „Arm sein ist lange nicht das Schlimmste – nur arm sein und dumm, das wäre eine Gottesstrafe.“ Na, dann …