Du hast dreieinhalb Stunden – wie entscheidest du?
Präsentiert stolz seinen ersten Roman: Drehbuchautor Robert Krause aus Miesbach. Foto: Sabine Schreiber
Buch- und Filmrezension
West oder Ost? Der Miesbacher Regisseur und Drehbuchautor Robert Krause stellt die Protagonisten seines ersten Romans vor die Entscheidung ihres Lebens.
Es ist der 13. August 1961, der Tag, an dem die Berliner Mauer errichtet wird und mit ihr die Grenze, die beide deutschen Länder für die nächsten 28 Jahre trennt. Niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, dass diese Mauer im Herbst 1989 wieder geöffnet wird. Auch der Autor des Romans „3 ½ Stunden“, der in Dresden aufwuchs und 19-jährig aus der DDR in den Westen floh, damals nicht. Die Geschichten des Mauerbaus und des Mauerfalls haben ihn jedoch nie verlassen.
Jetzt, anlässlich des 60. Jahrestages des Baus der Berliner Mauer, hat er gemacht, was er schon lange vorhatte: Er hat auf Anfrage der ARD nicht nur gemeinsam mit seiner Kollegin Beate Fraunholz ein Drehbuch zum Thema geschrieben, sondern zugleich seinen ersten Roman. Er trug ganz einfach zu viele Geschichten in sich, um sie in einen 90-minütigen Film zu verknappen. Darunter die Geschichte der Großeltern, die an jenem Tag genau vor dieser Entscheidung standen: Westen oder Osten? Wie selten ein anderer Autor hatte er somit in der Hand, mitzubestimmen, wie der Roman filmisch umgesetzt wird. Und damit auch die doppelte Unsicherheit: Werden die, die den Roman mochten, auch den Film mögen und umgekehrt?
Premiere des gleichnamigen Films „3 1/2 Stunden“ beim Filmfest München – open air im Olympiapark. Foto: IW
Wie oft, wenn eine Geschichte ein Herzensanliegen ist und zudem Potenzial hat, den Nerv der Zeit – das 60. Jubiläum jenes unrühmlichen Kapitels Deutsch-Deutscher Geschichte – zu treffen, brennt der Funke hell. In diesem Fall hat er Robert Krause so entflammt, dass er in der Lage war, neben seiner regulären Arbeit als Drehbuchautor und Dozent für Creative Writing an der Filmhochschule München noch diesen Roman zu schreiben. Seine Familie hat wenig von ihm gehabt in diesen fünf Monaten, aber ist jetzt gemeinsam mit ihm glücklich. Der Film hatte bereits erfolgreich Premiere auf dem Filmfestival München und wurde mit dem Bernd-Burgemeister-Preis ausgezeichnet. Seit Juli ist auch der Roman im Handel.
Dreieinhalb Stunden verändern das Leben
Und darum geht es: Im Interzonenzug von München nach Ost-Berlin treffen am 13. August 1961 die unterschiedlichsten Protagonisten aufeinander. Wie verwoben ihre Schicksale miteinander sind oder sich nun miteinander verweben, lässt Robert Krause in diesen dreieinhalb Stunden ab Bekanntwerden des Unglaublichen bis zum Erreichen des letzten westdeutschen Bahnhofs einem dramatischen Höhepunkt zustreben. Es sind viele Einzelschicksale und sie ergeben dennoch ein kollektives Dilemma. Es ist der eine Satz, der es auf den Punkt bringt: „Alle, die jetzt gingen, verloren ihr Zuhause. Alle, die weiterfuhren, ihre Freiheit.“
Robert Krause hat seinen Figuren im Roman mehr Tiefe gegeben, indem er ihre Geschichten detailliert auserzählt. Alle Protagonisten haben triftige Gründe, sich mit der Entscheidung schwer zu tun und zweifeln, bis hin zu Major Paul Fuchs. Der Einsatzleiter im Polizeipräsidium Berlin koordiniert den Mauerbau und dessen Schutzmaßnahmen. Seine Tochter sitzt in diesem Zug. Kann sie ihre Familie zusammenhalten? Ein schwules Musikerpaar ist vor die Entscheidung gestellt: im Westen bleiben, wo der Paragraf, der Homosexualität verbietet, noch rechtskräftig, im Osten hingegen schon aufgehoben ist? Die leidenschaftliche Lokführerin – die erste der DDR, wo das Frauenbild ein moderneres ist – würde sie im Westen jemals wieder eine Dampflok fahren?
Welches System ist besser?
Anders als Filme wie „Das Leben der Anderen“, wo primär ein kritisches Licht auf die DDR geworfen wird, betrachtet Robert Krauses Geschichte die Dualität: Welches der beiden Systeme ist besser? Das Kaleidoskop der Einzelgeschichten, die aus immer wieder neuen Blickwinkeln erzählt werden, indem sie sich miteinander verweben, wird zum Brennglas. Es wirft ein gestochen scharfes Bild auf die Zeit. Auf die unterschiedliche geschichtliche Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges beziehungsweise deren schwarze Löcher in beiden Systemen. Auf die Arbeit der Stasi, auf deren Opfer, aber auch inoffizielle Mitarbeiter im Dilemma, ebenfalls Opfer – oder Verführte? – zu sein. Auf den dubiosen Ehrgeiz der sozialistischen Sportkaderschmiede, die von profitgierigen Ärzten im „Kapitalismus“ genährt wird oder die dramatischen Verdrängungen der Kriegs- und Nachkriegserlebnisse hüben wie drüben.
Cover des neu erschienenen Romans „3 1/2 Stunden“ von Robert Krause. Foto: Rowohlt Taschenbuch Verlag
Robert Krause ist ein hervorragender Beobachter und Erzähler. Fein geschliffen die Sprache, durch die ein leiser Humor schimmert, bei aller Ernsthaftigkeit des Themas. Jede der Lebensgeschichten, die er in diesem Roman erzählt, hat Potenzial zur Eigenständigkeit. Es sind Biografien, die berühren. Gedanken und Gefühlsregungen, die die Menschen verletzlich zeigen, egal wie sicher und autoritär sie sich geben. Wie viel einfacher hätten es diese Heldinnen und Helden, wenn sie ihre Gefühle und Geheimnisse mit den Menschen, die sie lieben, geteilt hätten? Dass sie es nun tun müssen in diesen entscheidenden dreieinhalb Stunden, vereint manche und entzweit andere. Jedes Mal ist es ein „für immer“. Interessant ist auch die Herangehensweise des Drehbuchautors, der in seinem Roman die Protagonisten szenenweise auftreten lässt. Es gibt dem Buch eine besondere Rat- und Rastlosigkeit. Fein hineingestreut sind Ruhepole des Zwischenmenschlichen, etwa wenn die Protagonisten bewusst oder unbewusst einander zur Stütze werden.
Es gibt nicht die eine richtige Entscheidung
Dem Autor ist es außerdem gelungen, eine Hommage an das Kino in seinem Roman zu verstecken, in der zart aufkeimenden Liebesgeschichte der „Pufferküsserin“ Edith und dem Filmemacher Kurt. Und eine Affinität für Züge lässt sich ebenfalls nicht verbergen – sie gibt insbesondere dem Film einen nostalgischen Reiz. Robert Krause hat gut daran getan, parallel zum Film einen Roman zu schreiben. Diese Geschichten haben ans Licht kommen und in ihrer Gänze erzählt werden sollen. Was Leserinnen des Romans und Zuschauer des Filmes gleichermaßen berührt, ist: Die Geschichte versöhnt mit Entscheidungen, die jeder Einzelne treffen muss, obwohl sich immer nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit erfassen lässt. Mit dem daraus resultierenden Schmerz muss man weiterleben, denn es gibt zumeist nicht die eine richtige Entscheidung. Aber immer nur das eine Leben.
Lesetipp: Unsere wunderbaren Jahre – Drehbuch Robert Krause