Eine Geschichte aus der Geschichte
Dagmar Leiter, Regina Deflorin D’Souza, Daniel Rasch, Andreas Eder, Daniela Scheuenstuhl-Anduleit, Erich Leiter (v.l.). Foto: Marcus Astroth
Theater in Aying
„AbschuSS – Wilderer und Bauernopfer“ nennt Marcus Everding sein Stück, das er mit der Ayinger Gmoa Kultur e.V. inszeniert hat. Es beginnt 1940, endet 1950 und zeigt einen Ausschnitt aus der Zeitgeschichte, fesselnd, bewegend, eindringlich und keineswegs moralisierend.
Der Theaterabend beginnt und endet mit Paukenschlägen. Er erzählt in ungewöhnlicher, aber packender Weise das Einzelschicksal einer Familie. Aber so ist sie, die Geschichte. Sie ist die Summe dessen, was in der Welt war, lässt Marcus Everding eine Stimme von oben sagen. Und wir erfahren davon von Botschaftern und Zeitzeugen.
Fünf Stimmen (Franziska Köhler/Anna-Lena Bechteler, Sabine Wöllinger, Melanie Wolke, Lorenz Schreier, Hans Kiemer) begleiten die szenische Darstellung auf der Bühne. Immer dann, wenn sie das Zeitgeschehen in Sprache kleiden, stagniert das Geschehen, die Schauspieler verharren, die Zeit steht still und dann setzt die Geschichte ein.
Die Zeit steht still: Alexander Brunner und Regina Deflorin D’Souza. Foto: Petra Kurbjuhn
Die Protagonisten sind namenlos, jeder könnte es sein und keiner werfe den ersten Stein. Der Wirtssohn (Alexander Brunner) hat gewildert, wurde denunziert, von wem, wird erst am Ende klar, und sitzt im Gefängnis, dadurch ist er nicht mehr erbwürdig. Seine Eltern (Dagmar und Erich Leiter) sind verzweifelt, seine Verlobte (Regina Deflorin-D’Souza) wirkt entmutigt. In diese Situation trifft der elegante Fremde aus Berlin (Daniel Rasch), der sich bald als Obersturmbannführer der SS entpuppt und eine Lösung parat hat. Der Wilderer kommt in eine Spezialeinheit der Waffen-SS, bei der er sich bewähren und seine Erbfähigkeit wiedererlangen kann.
Christian Selbherr als Pfarrer. Foto: Marcus Astroth
Zur Geschichte aus der Geschichte tragen weitere namenlose Personen bei. Typisch für die Nazizeit agieren der Bürgermeister und Ortsgruppenleiter der NSDAP (Andreas Eder) ebenso wie die Lehrerin und NS-Frauenschaftsführerin (Daniele Scheuerstuhl-Anduleit). Als kritischen Geist hat Autor Marcus Everding den Pfarrer (Christian Selbherr) eingesetzt. Er liefert sich mit dem SS-Mann eine Debatte um die jeweilige Schuld der „Organisation“ und gewinnt die Debatte nach dem Wortwechsel: „2000 Jahre hat der Aberglaube überlebt“ und „sieben von 1000 Jahren habt ihr auch schon geschafft“, muss sich dann aber sagen lassen: „Pfarrer sind nicht sacrosankt“.
Luzia Schwarzer als Italienerin. Foto: Marcus Astroth
Luzia Schwarzer tritt ebenso wie Hubert Deflorin in einer Dreifachrolle auf. Zunächst ist sie nur die polnische Zwangsarbeiterin, die gescheucht wird und der Dachauer, ehemaliger Kommunist, hat seine Lektion im KZ gelernt, wie der Bürgermeister verkündet und fällt durch vorauseilenden Gehorsam auf.
Der Dachauer (Hubert Deflorin) am Rande des Geschehens. Foto: Marcus Astroth
Nach dem Krieg 1945 sind die beiden die Zeitzeugen der Geschichte, die kommentarlos aufnehmen, was passiert ist: „Ihr Leben ist jetzt Geschichte“, sagen sie und halten fest: „Für Schuldfragen sind wir nicht zuständig.“ Und auch fünf Jahre später sind sie wieder dabei, wenn in „reibungsloser Kontinuität“ der ehemalige Ortsgruppenleiter als Bürgermeister nach wie vor sein Amt innehat.
Die Geschichte hält fest: Daniel Rasch, Luzia Schwarzer, Erich Leiter, Regina Deflorin D’Souza, Alexander Brunner, Christian Selbherr, Daniela Scheuenstuhl-Anduleit, Hubert Deflorin (v.l.). Foto: Petra Kurbjuhn
Marcus Everding hat ein Stück Geschichte aus der Geschichte geschrieben, in der es um Liebe, Schuld und Verrat in einem totalitären Staat geht, wo jeder mit Ausnahme des Pfarrers sich irgendwie mit dem System arrangiert, um zu überleben. Seine Inszenierung ist weder anklagend noch voyeuristisch noch missionierend. Indem er die Geschichte an sich als Hauptprotagonistin einsetzt, lässt er die Tatsachen sprechen und enthält sich einer Meinung. Bis zum Schluss. Das Stück endet mit einer Frage, die sich jeder selbst zu stellen hat.
Die Zeit steht still: Alexander Brunner, Regina Deflorin D’Souza und Daniel Rasch (v.l.). Foto: Petra Kurbjuhn
Schauspielerische Kraft
Die Inszenierung in einem aufwendigen Bühnenbild lebt von der schauspielerischen Kraft aller Darstellerinnen und Darsteller von der Ayinger Gmoa Kultur, die sich auch einige Mitwirkende aus dem Landkreis Miesbach ausgeliehen hat. Ob die Stimmen von oben oder die präsenten Szenen auf der Bühne im Stillstand oder lebendig, alles greift stimmig ineinander und zeugt von intensiver Regiearbeit ebenso wie von schauspielerischem Talent der Laiendarsteller. Anhaltender Applaus dankt allen Mitwirkenden für einen bewegenden, nachhaltigen und überaus empfehlenswerten Theaterabend.