„Entartete Kunst“ und Provenienzforschung
Michael Beck moderiert das Face to Face Gespräch zu Provenienzforschung mit Dr. Tessa Rosebrok, Dr. Mario von Lüttichau und Dr. Andrea Bambi (v.l.). Foto: IW
Neues Gesprächsformat im Olaf Gulbransson Museum
Bereits in den frühen 1930er Jahren diffamierten die Nationalsozialisten Marc Chagall und viele seiner Kollegen als „entarteten Künstler“. Sie entfernten und verscherbelten ihre Werke. Wem gehören heute diese Bilder und die der zahllosen Raubkunst? Ein hochkarätig besetztes Face to Face Gespräch ging im Olaf Gulbransson Museum dieser brisanten Frage anhand der Provenienzforschung nach.
Michael Beck, neuer Vorstandsvorsitzender der Olaf Gulbransson Gesellschaft, der die Ausstellung „Marc Chagall. Eine Liebesgeschichte“ mit 60 Werken aus Privatbesitz an den Tegernsee geholt und kuratiert hat, schuf auch ein neues Format für das Museum: Face to Face Gespräche zwischen Experten und Publikum als Teil des hochkarätigen Begleitprogramms zur Ausstellung.
Provenienzforschung und Restitution
Zum Gespräch über Provenienzforschung und Restitution lud er am Freitagabend Andrea Bambi, Leiterin der Provenienzforschung der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, Tessa Rosebrok, Leiterin der Provenienzforschung am Kunstmuseum Basel und Mario von Lüttichau, ehemaliger Kustos des Museum Folkwang, Essen, ein. Das lebhafte, von Michael Beck moderierte Expertengespräch wurde vom Publikum mit großem Interesse verfolgt. Das Thema war ein heikles und kompliziertes:
Wie gehen wir mit enteigneten Kunstwerken um?
Die zentrale Frage beschäftigte die Expertinnen und Experten im Podium wie die Gäste, die nach dem Gespräch interessierte Fragen stellten, gleichermaßen brennend. „Jeder Fall ist anders und komplex“, leitete Michael Beck in das Thema ein. Er machte in seiner Arbeit als Galerist und auch als Verwalter des Nachlasses seines Vaters, des Künstlers Herbert Beck, Erfahrungen mit dem Thema. Viele der Bilder seien nach mehrfachem Besitzerwechsel „gutgläubig erworben“ worden. Deshalb stünden sich heute oft zwei private Rechtspersonen gegenüber: der rechtmäßige Eigentümer beziehungsweise dessen Erben und der gutgläubige Käufer.
Bilder mit „Makel“
Solcherart Bilder gelten heute als quasi unverkäuflich. Sie haben „einen Makel“ – und „wer möchte sie sich mit reinem Gewissen ins Wohnzimmer hängen?“ Neben privaten Sammlern und staatlichen Museen sowie Gemäldegalerien sind auch kleine Heimatmuseen betroffen, für die es noch viel schwieriger sei, die Identität der ursprünglichen Eigentümer zu erforschen.
Jüdische Kunst war den Nationalsozialisten zutiefst zuwider: Marc Chagall blieb zeitlebens ein „jiddischer“ Künstler, das Bild „Der Rabbiner im Winter“ entstand um 1960, Fondazione Gabriele e Anna Braglia, Lugano © VG Bildkunst Bonn 2021.
Es gäbe kein Gesetz, keine rechtliche Verpflichtung, erläuterten die Provenienzforschenden. Die öffentlichen Sammlungen folgten jedoch allesamt einer moralischen Selbstverpflichtung, die Herkunft ihrer Kunstwerke eindeutig zu identifizieren. Dass die westlichen Alliierten das von den Nationalsozialisten 1938 erlassene Gesetz zur Legitimierung der Enteignungen „entarteter Kunst“ nicht rückgängig gemacht hätten, erschwere noch heute die Situation.
Entartete Kunst und Raubkunst
Zahlreiche Werke der „entarteten Kunst“ wurden zerstört – noch viel mehr jedoch im Auftrag der Nationalsozialisten auf Auktionen verscherbelt. Denn auch wenn diese Kunst ganz und gar nicht im Geschmack und Sinne der neuen Reichspropaganda war – darüber, dass mit diesem „Schund“, wie es etwa Goebbels formulierte, Geld zu machen war, war man sich bewusst. Große museale und auch private Gemäldesammlungen wurden zerrissen, die Bilder in der ganzen Welt zerstreut. Zudem wurden hundertausende Kunstwerke aus jüdischem Besitz von den Nazis geraubt, beschlagnahmt, enteignet. Unzählige Werke wurden von jüdischen Familien in Not und Eile verkauft, um die „Fluchtsteuer“ zahlen zu können oder die Überfahrt ins Exil. Später tauchten die Kunstwerke irgendwo wieder auf. Noch viel später und in der breiten Öffentlichkeit erst mit dem Fall Gurlitt wieder präsent, wird – immer dringlicher – die Frage gestellt: Wem gehören diese Bilder heute?
Grauzonen am florierenden Kunstmarkt
Die Nationalsozialisten beschlagnahmten etwa 20.000 „entartete“ Kunstwerke. Viele davon, darunter auch Werke von Chagall, wurden in der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ als Schandobjekte ausgestellt. Sie wurden auf Auktionen gehandelt und wechselten später mehrfach ihre Besitzer. Über die Konsequenzen, die sich daraus bis heute ergeben, sprachen die Expertinnen und Experten der Provenienzforschung anhand von Praxisbeispielen ihrer Museen und Sammlungen. Für großes Interesse sorgten auch die Erläuterungen über die Situation des damaligen Kunstmarktes und seiner teils zwielichtigen Protagonisten, die sich oft in Grauzonen bewegten und doppelgleisig agierten, wie beispielsweise Cornelius Gurlitt.
Das Bild „La Prise“ von Marc Chagall gehört zu den von den Nazis als „entartete Kunst“ zur Schau gestellten Bildern. Foto: IW
Woher stammen Opas Bilder?
Interessant waren auch die Erläuterungen, die das Publikum für die Unterschiede zwischen Raubkunst durch Enteignung und den Notverkäufen der jüdischen Sammler, die ins Exil gingen, sensibilisierten. Der „verfolgungsbedingte Verkauf“, der zwar einvernehmlich war und Leben rettete, war ebenfalls Unrecht, begangen an den verfolgten Juden. Der schwierigste Weg bestünde heute darin, herauszufinden, woher tausende Kunstwerke eigentlich stammten, die nicht nur in Sammlungen, sondern auch in Wohnzimmern hingen: Die Aussage „…hat der Opa aus dem Krieg mitgebracht…“, müsse hinterfragt werden. Wichtig sei, dass alle Menschen, die auf dem Kunstmarkt tätig sind, für das Thema sensibilisiert seien.
Jahrzehnte für Aufarbeitung
Manchmal seien die Nachforschungen extrem schwer. Wenn beispielsweise bei Emil Nolde zahlreiche Bilder „Abendhimmel“ heißen – wie lässt sich eindeutig herausfinden, ob das eine oder andere Bild tatsächlich „sauber“ ist? „Es geht nicht nur um Sachverhalte, jeder Fall ist mit Menschenschicksalen verbunden und das zu heilen ist schwierig“, schloss Michael Beck die komplizierten Erörterungen ab. Am Ende, so die einhellige Meinung, müsse es immer darum gehen, eine faire und gütliche Einigung zwischen den betroffenen Parteien zu erzielen. Die Aufarbeitung werde noch Jahrzehnte dauern.
Marc Chagall bis 09. Januar am Tegernsee
Dass bei dem hochinteressanten Gespräch die Zeit wie im Fluge vorüberging, ist kaum verwunderlich. Michael Beck hat mit dem neuen Format einen Nerv getroffen, der Kunstinteressierte anspricht und Gespräche über Kunst ermöglicht. Die Sonderausstellung „Marc Chagall. Eine Liebesgeschichte – Daphnis & Chloé und andere Werke“ ist noch bis zum 09. Januar im Olaf Gulbransson Museum Tegernsee zu sehen.