Europa – Garantie und Chance zugleich
Markus Ederer und Gerhard Polt beim Gespräch im Schlierseer Bauerntheater. Foto: Kerstin Brandes
Schlierseer Rede beim Schlierseer Kulturherbst
Gerhard Polt, im besten Sinne ein Tausendsassa, und Markus Ederer, EU-Botschafter in Moskau, stellten sich am Kirchweihsonntag den Fragen eines bunt gemischten Publikums. Die etablierte Podiumsdiskussion im Rahmen des Schlierseer Kulturherbstes fand diesmal unter dem Motto „Ach Europa“ statt.
Mit der Begrüßung „Liebe Europäer, liebe Europäerinnen“ und dem Verweis auf eine gestern von ihm gesehene Debatte im englischen Unterhaus über den noch immer umkämpften Begriff Europa leitete Gerhard Polt schnurstracks zur überaus komplexen Thematik des Vormittags im Schlierseer Bauerntheater. Markus Ederer nannte zu Beginn seine Inspirationsquellen für den Titel der Veranstaltung „Ach Europa“: Zum einen Hans Magnus Enzenbergers Werk über europäische Gesellschaften, zum anderen eine Schrift von Jürgen Habermas, in der er mitunter für eine ‚Politik der abgestuften Integration‘ plädiert.
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Sorgenvoller Blick
Europäer sehen sich derzeit konfrontiert mit Uneinigkeit bei der Migrationsfrage und dem Wertekanon, nationalistischen Bestrebungen einzelner Staaten und damit, wie Markus Ederer es formuliert, „dass die Stärke des Rechts durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird“. Obwohl Europa das größte internationale Friedensprojekt ist, den größten Binnenmarkt der Welt vertritt und den größten Etat an Entwicklungs- und humanitärer Hilfe hat, stellt sich die Frage, warum es dennoch so kraftlos erscheint.
Einigkeit
Mehrere Fragen aus dem Publikum zielten auf die gemeinsamen Visionen und Ziele der EU Mitgliedstaaten. Sei es im Hinblick auf die zunehmenden Schwierigkeiten der EU bei Abstimmungen die nötige Einstimmigkeit zu erreichen oder aber Überlegungen, wiederholte Querulanten aus der EU gar auszuschließen. Ederer schildert das Dilemma im ersten Fall: Das Einstimmigkeitsprinzip wird zwar nicht von allen Mitgliedstaaten gutgeheißen, es bedürfte jedoch – wieder – einer Einstimmigkeit, um dieses Prinzip abzuschaffen. Hingegen ist der Ausschluss eines Mitgliedstaates in Artikel 7 des EU-Vertrags verbrieft, wäre jedoch schwierig umzusetzen, zumal die EU generell darauf ausgelegt ist, Mitgliedstaaten zu halten.
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Ehrlichkeit
Auf einige Fragen aus dem Publikum konnte Markus Ederer nur mit einem Appell an die Ehrlichkeit und Transparenz parieren. Egal ob es um den unglücklichen Verlauf bei der Wahl der neuen Kommissionspräsidentin geht oder die Solidarität, die Deutschland aufgrund seiner Rolle und seines Einflusses, gegenüber der EU aufbringen sollte. Deutschland profitiert unterm Strich von der EU und Politiker sollten dies den Bürgern transparent kommunizieren. Unser Wohlstand hat jedoch seinen Preis und auch der sollte ehrlich benannt werden. Dann erst könne der Bürger an der Wahlurne entscheiden, was ihm die EU wert ist und ob er den Preis zahlen will.
Stabilität
Den Fragestellern lag auch am Herzen, eine Einschätzung zu bekommen, wie Markus Ederer die globale Lage und das Agieren der EU darin sieht. Nachdem er die Situationen der Ukraine und der baltischen Staaten in Bezug auf Russland geschildert hat, zog er den Kreis noch etwas weiter und ging auf die zunehmende Bipolarität der Welt zwischen U.S.A. und China ein. Einerseits gilt und sieht sich Europa als moralische Supermacht, andererseits zögert sie diesem Credo nachzukommen und sich durchzusetzen. Seiner Meinung nach müsse die EU ihre DNA, die weitgehend auf Zusammenarbeit ausgelegt ist, überprüfen und sich gegebenenfalls anpassen, um aus der Defensive zu kommen. Auf jeden Fall wären Wachsamkeit und Resilienz anzuraten.
Chancen
Auf eine Anregung aus dem Zuschauerraum bezog sich Gerhard Polt gerne bei seinem Schlusswort: Europaunterricht. Europa solle gelernt, gelebt und erkundet werden – am besten angefangen bei den Kindern. Nachdem die Erinnerungen an ein Europa vor dieser Union immer mehr verblassen, müsse wieder ins Gedächtnis gerufen werden, was diese Union alles Großartiges bewirkt und erreicht hat. Markus Ederer betonte nochmals, welches Gewicht Europa habe, wenn es als gemeinsames agiert. Am Ende dieser Podiumsdiskussion wies er nochmals darauf hin, dass er viele Chancen zur Vertiefung und Entfaltung der europäischen Idee sieht, obwohl er sich als Realist einschätzt, dem bewusst ist, dass ein Weg zwischen Mutlosigkeit und falschem Enthusiasmus zu wählen ist.
Auch bei der Überlegung, was man machen würde, gäbe es ein Europa wie das heutige nicht, kommt er zu dem Schluss, dass es auf jeden Fall erfunden werden würde. Für ihn gilt, das Projekt Europa weiter zu entwickeln, auch als Garantie, dass wir weiterhin in dieser Qualität und auf diesem Standard leben können.