Gendern oder nicht gendern? Das ist hier die Frage
Sollten wir den Gender-Gap genauso beachten, wie die berühmte Lücke zwischen Zug und Bahnsteig?. Foto: pixabay.com
„Liebe Leser*innen – Leserinnen und Leser – Lesenden – Liebe Leser?!“
Die Debatte darüber, wie Personenbezeichnungen geschlechtergerecht zu formulieren seien – kurz: die Gender-Debatte – ist akuter denn je. Was haben die Vorsitzende des Vereins KulturVision und eine Philosophin dazu zu sagen?
Die Bedeutung der geschlechtergerechten Sprache wird schon seit den 70er Jahren diskutiert. Damals war das Thema Gegenstand der feministischen Linguistik und Frauenforschung. Jetzt, 50 Jahre später, hat die Debatte übers Gendern auch ins tägliche Leben von Leserinnen und Lesern, von Radiohörerinnen und Radiohörern und ganz allgemein von Bürgerinnen und Bürgern Einzug erhalten (siehe zu den Beidnennungen auch den Info-Kasten am Ende des Textes).
Eine allgemeingültige „Gender-Regel“ gibt es derzeit nicht
In den großen Wochen- und Tageszeitungen wie die Süddeutsche Zeitung tauchen Gendersternchen und Co derzeit (noch) nicht auf. In Podcasts und jüngeren Radioformaten hingegen ‚hören‘ wir mehr und mehr den gesprochenen Gender-Gap, diese kleine, feine Pause zwischen „Bürger“ und „innen“ (geschrieben „Bürger*innen*), durch die Männer, Frauen und andere Geschlechter gleichermaßen angesprochen werden sollen.
Was sagen zwei Frauen dazu?
Wie in der KulturVision das Thema angegangen wird und wie Monika Ziegler (73), Journalistin und Vorsitzende des Vereins KulturVision, persönlich zum Gendern steht hat sie der Autorin dieses Textes in einem Telefoninterview erläutert. Um ein breiteres Bild der Debatte zu zeichnen wurde in einem weiteren Interview Christine Bratu (39) befragt, die im Bereich feministische Philosophie an der Universität Göttingen lehrt und forscht.
Monika Ziegler, Journalistin und Vorsitzende von KulturVision. Foto:Petra Kurbjuhn
Monika Ziegler ist Gender-Gegnerin. Doch zwei Dinge vorweg: Der Vorsitzenden von KulturVision liegt Geschlechtergerechtigkeit sehr am Herzen. Regelmäßig holt sie gezielt Frauen auf die Bühne, wie beispielsweise im Zuge der Veranstaltungsreihe „starke Frauen – Frauen stärken“ im Rahmen von „anders wachsen“ im Jahr 2019/2020. Und dass Sprache lebendig und ständig Entwicklungen unterworfen ist, stört die ausgesprochene Literaturliebhaberin keineswegs. „Wir müssen uns nicht wie Goethe und Schiller ausdrücken. Sprache wandelt sich.“
Lesetipp: die ZEIT-ONLINE: „Eine Frage der Endung“ von Eugen Ruge
Was das Gendern betrifft, so kritisiert Monika Ziegler, dass Gendersternchen und Co erzwungen sind. Dass das generische Maskulinum, eine grammatikalische, aus der Vergangenheit gewachsene Regel, plötzlich durch Beidnennungen oder verschiedenerlei Arten oder Zeichen zu ersetzen ist, wird in ihren Augen oktroyiert, geradezu übergestülpt und schürt dadurch den Unmut der Journalistin: „Ich lasse mir nicht vorschreiben, wie ich zu formulieren haben. Druck erzeugt Gegendruck!“
„Frauen müssen nicht durch die Sprache gepusht werden. Wir sind doch wer!“
Außerdem habe sie sich immer angesprochen gefühlt, wenn von den „Bürgern“ die Rede war. Das sei eine Sache des Selbstbewusstseins. „Frauen müssen nicht durch die Sprache gepusht werden. Wir sind doch wer!“ Für Monika Ziegler liegt der Weg zur Gleichstellung von Mann und Frau einzig und allein in der Änderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingen, wie beispielsweise in der Bereitstellung von ausreichend Kita-Plätzen. Damit „Frauen tun können, was sie wollen“ und gleichzeitig gesellschaftlich und finanziell nicht den Kürzeren ziehen.
Die Frauenquote der 70er Jahre als Analogie
Die ehemalige Naturwissenschaftlerin, aufgewachsen in der DDR, erläutert, dass sie sich zudem in die Zeit der 70er Jahre versetzt fühle. Damals führte die DDR eine Frauenquote ein, wodurch Frauen, nur um der Quote willen, in Ämter und Positionen gedrängt wurden, die sie nicht anstrebten, und denen sie zum Teil auch nicht gewachsen waren. Die Folge war eher ein Vorführen der Frauen als eine Gleichstellung. Sie warnt, dass der Schuss, wie damals auch, nach hinten losgehen könne und dieser erzwungene Sprachwandel so ein relevantes Thema wie die Gleichstellung der Geschlechter ins Lächerliche ziehen werde. „Die jungen Frauen kämpfen für eine gute Sache, aber mit den falschen Mitteln“ und das tue ihr in der Seele weh, meint die Vorsitzende der KulturVision.
Gendern bei KulturVision?
Eigentlich will Monika Ziegler dem Thema nicht allzu viel Platz einräumen, doch als verantwortliche Redakteurin einer Zeitung kommt sie um die Gender-Debatte nicht herum. Sie betont, dass sich das Redaktionsteam von KulturVision auf einen Kompromiss geeinigt hat, bei dem weder Gendersternchen noch ähnliche Neologismen genutzt werden (siehe Info-Kasten am Ende des Textes).
Christine Bratu, Philosophin und Genderforscherin an der Universität Göttingen. Foto: Christine Bratu
Auch für Christine Bratu existiert lebensweltlicher Sexismus, was bedeutet, dass unsere Gesellschaft de facto nicht geschlechtergerecht ist. Frauen verdienen weniger Geld als Männer und leisten unbezahlte Care-Arbeit, was eine niedrigere Rente zur Folge hat. Allerdings wird dieses Thema aus ihrer Sicht nicht prominent genug behandelt.
Die deutsche Sprache spiegelt diese Nicht-Gleichstellung durch grammatikalische Phänomene wie das generische Maskulinum wider und spielt deshalb für die Philosophin eine durchaus wichtige Rolle auf dem Weg zur Gleichberechtigung. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen, dass sich weibliche Probanden beim Gebrauch des generischen Maskulinums nicht angesprochen fühlen, obwohl sie grammatikalisch mitgemeint sind. Darüber hinaus gibt es den Aspekt der Wertschätzung: „Denken Sie an die Weihnachtskarte. Ich kann natürlich Glückwünsche an die Familie Huber senden. Nenne ich jedoch jedes Familienmitglied beim Namen hat das doch eine ganz andere Symbolik!“ Die Einzelnennung führe also dazu, dass Personen sich direkt angesprochen und zugehörig fühlen.
Mit Sprache aufmerksam machen
Die Professorin sieht den Weg zur Gleichstellung nicht allein in der Änderung der Sprache: „Natürlich brauchen wir grundsätzlich eine Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen!“ Während diese allerdings in ihren Augen viel Geld und ebenso viel Zeit beansprucht geht Gendern für „lau“ und ist viel einfacher und schneller zu bewerkstelligen. „Mit Sprache aufmerksam machen“ ist eines ihrer Mottos, „um damit dem gesellschaftlichen Wandel den Weg zu ebnen.“
Was zählt mehr: literarische Ästhetik oder Geschlechtergerechtigkeit?
Dass sie damit tendenziell die Jüngeren unserer Gesellschaft anspricht und mit ins Boot holt, ist ihr durchaus bewusst. Sie gibt zu, beim Gendern konsequent auf die Jugend zu setzen, auf die zukünftigen Politikerinnen und Politiker und weniger auf die ältere Generation. Kritikerinnen und Kritiker fragt sie geradeheraus: „Überlegt euch mal wo ihr steht und auf was es euch ankommt! Ist euch literarische Ästhetik oder Geschlechtergerechtigkeit wichtiger?“
Die heutige Jugend ist gendersensibler als wir es waren
Wenn ihre Nichte sich fragt, warum die Schule Schilder aufhängt auf denen „Schule gegen Rassismus“ zu lesen ist, aber keines mit „Schule gegen Sexismus“, dann freut sich Christine Bratu, da offensichtlich eine Aufmerksamkeit, ein Gespür für das Thema unter den Jugendlichen entsteht. Sie selbst habe dieses sprachliche „Ausschlussverfahren“ bis ins Studium hinein nicht einmal bemerkt.
Der Duden ist kein unumstößliches Gesetz
Für Christine Bratu ist Sprache nicht die DNA, auf die wir festgelegt sind. Die Menschen können und dürfen Sprache aktiv entwickeln und verändern. „Wir entscheiden, wie wir sprechen, und nicht der Duden!“ Und wenn durch das Gendern eine 16-Jährige begreift, dass sie mit „Bürger:in“ direkt angesprochen und mitgemeint ist, dann ist dieser Schritt es der Philosophin allemal wert.
1. Wir nutzen keine Gendersternchen, -Unterstriche, -Doppelpunkte oder Binnen-Is
2. Unsere favorisierte Schreibweise in dieser Reihenfolge:
A) geschlechtsneutrale Beschreibungen: Personen, Studierende
B) Beidnennung: Schülerinnen und Schüler
C) Wechsel zwischen maskuliner und femininer Form: es wird beispielsweise von der Gärtnerin, dann vom Bibliothekar gesprochen.
Übrigens: Auf https://www.buchstaben.com/gender-woerterbuch gibt es seit kurzem ein einfach zu bedienendes und redaktionell gepflegtes Gender-Wörterbuch, welches fortlaufend ausgebaut wird. Mittels einer einfachen Suchfunktion kann man gezielt nach gendergerechten Wörtern suchen. Auch die Plattform Sprachnudel bietet viel Wissenswertes zum Thema.