Wie kann ich meinen Geist dazu bringen, die Komfortzone zu verlassen?
Neurobiologe Gerald Hüther. Foto: Josef Fischnaller
Die Komfortzone verlassen? Das Leben umkrempeln? Das eigene Potential entfalten und an neuen Aufgaben wachsen? Leichter gesagt, als getan! Wer steht uns im Wege, wenn nicht wir selbst? Neurobiologe Gerald Hüther hat ein paar Antworten darauf.
KulturVision verfolgt schon seit vielen Jahren aufmerksam die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse Gerald Hüthers sowie die Initiativen, die der Neurobiologe ins Leben gerufen hat. In der 26. Ausgabe der KulturBegegnungen mit dem Thema „Verantwortung“ war Gerald Hüther unser Interviewpartner zum Titeltext. Mit unserer Spurwechsel-Initiative sind wir seit 2016 Mitglied der Akademie für Potentialentfaltung und dürfen uns in der Praxiswerkstatt präsentieren. Heute möchten wir mit Ihnen die Gedanken und neurowissenschaftlichen Erkenntnisse Gerald Hüthers zu diesem Thema teilen, das uns auch in der Spurwechsel-Initiative beschäftigt.
Gerald Hüther schreibt:
„Komfortzone verlassen? Das geht ja gut los. Wer ist denn dieser „Geist“ von dir, bist du ihm schon mal begegnet? Und was würde es nützen, wenn der zu einer Veränderung bereit wäre, du aber nicht? Also muss es wohl heißen: Was muss passieren, damit ich mich auf den Weg mache und aus den alten, eingefahrenen Mustern ausbreche, die mein Denken, Fühlen und Handeln bisher so sehr bestimmt haben?
Und was heißt „Komfortzone“? Ist das Leben, das du gegenwärtig führst, wirklich so komfortabel im Sinne von leicht und angenehm oder gar bequem? Manche Leute führen ein extrem unkomfortables Dasein. Haben Probleme mit der Partnerschaft, fühlen sich zu Hause nicht wohl, können sich selbst nicht leiden, ärgern sich mit Kollegen herum, machen lauter Dinge, auf die sie keine Lust haben und beklagen sich ständig darüber, dass sie im Leben zu kurz gekommen sind.
Komfortzone verlassen, aber wie?
Vielleicht ist es bei dir nicht ganz so schlimm, aber so richtig komfortabel wird es wahrscheinlich auch nicht sein. Aber trotzdem hängst du daran fest und lässt es lieber weiter so laufen, wie es ist. Weshalb gibst du dich damit zufrieden, wenn es doch nicht so ist, wie du es gern hättest? Das ist doch die entscheidende Frage. Und die kannst du nur selbst beantworten. Wahrscheinlich liegt es doch an der gemütlichen Komfortzone.
Aber vielleicht hilft es dir, wenn du etwas besser verstehst, dass es ein ganz banales Prinzip gibt, das die Arbeitsweise deines Hirns (und die aller Gehirne) bestimmt:
Das menschliche Gehirn. Foto: KN
Es geht dort eben nicht um das Denken oder das Lernen oder gar um das Erreichen eines neuen Bewusstseinszustandes, sondern nur um Eines: Energie sparen. Schon im Ruhezustand, also wenn du flach daliegst und nichts denkst, verbraucht das Gehirn etwa 20% der vom Körper bereitgestellten Energie. Sobald du aufstehst, ein Problem hast und darüber nachzudenken beginnst, steigt dieser Energiebedarf rapide an. Wenn du nun auch noch etwas in deinem Leben zu ändern versuchst, womöglich sogar etwas Entscheidendes, streikt das Hirn und sucht lieber eine Lösung, die weniger energieaufwändig ist.
Und die heißt: Lieber so weitermachen wie bisher. Da ist alles so schön eingefahren, läuft in festen Bahnen, fast automatisch. Und was in dieser Weise im Hirn so gut gebahnt ist, verbraucht ja auch kaum noch Energie. Das funktioniert dann ganz wie von selbst. Sogar dann, wenn es demjenigen, der mit diesem Hirn herumläuft, so keinen Spaß macht. Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf kannst du dich nun fragen, ob es irgendetwas gibt, was dir – nicht heute oder morgen, sondern überhaupt in deinem Leben – so wichtig ist, dass du (mit deinem Hirn) bereit wärst, alles zu tun, um das auch zu erreichen, auch wenn es erst einmal enorm viel Energie kostet. Das ist die spannende Frage.
Energetisch unkomfortable Antwort
Am Ende, wenn du es geschafft hast, passt ja dann wohl auch alles in deinem Hirn deutlich besser zusammen. Dann wäre dein Hirn in einem Zustand größerer Kohärenz – und der wäre dann auch auf lange Sicht zwangsläufig einer, in dem es deutlich weniger Energie verbraucht.
Also: Wie kannst du dieses, auf’s Energiesparen optimierte Organ in deiner Birne dazu bringen, sich aufzurappeln und sich auf so einen Weg einzulassen, der zunächst viel Energie verbraucht, um später deutlich mehr Energie sparen zu können?
So kommen wir der Sache näher, und die Antwort kennst du schon längst. Es war nur bisher etwas unkomfortabel, also energetisch zu aufwändig, sie dir selbst bewusst zu machen. Die Antwort heißt: Es müsste etwas geben, wofür es sich lohnt, sich auf den Weg zu machen. Also ein, durchaus auch feines Ziel beispielsweise. Etwa das Studium durchhalten, um den Abschluss zu bekommen.
Es müsste etwas geben, wofür es sich lohnt, sich auf den Weg zu machen. Foto: Ines Wagner
Aber was machst du dann? Dann hängst du wieder drin im Energiesparmodus. So geht es also langfristig auch nicht. Es müsste also etwas deutlich größeres, bedeutsameres als ein in absehbarer Zeit erreichbares Ziel sein… Da kommt dann nur noch zweierlei in Frage: Du könntest versuchen, deinem Dasein auf dieser Erde einen Sinn zu verleihen. Dann wäre alles, was Dich daran hindert, ein sinnerfülltes Leben zu führen, fortan sinnlos. So ließe sich eine Unmenge Energie sparen.
Dem eigenen Leben Sinn und sich selbst Würde verleihen
Du kannst aber auch bei allem, was du machst oder machen willst, darauf achten, dass es deine Würde als Mensch, also das, was du sein möchtest, nicht verletzt. Dann wäre alles, was du künftig denkst und tust, wenn es nicht diesem Bild eines würdevollen Menschen, entspricht, der du ja sein möchtest, würdelos. Dann könntest du dich im Spiegel nicht mehr liebevoll anlächeln, wenn du wieder einmal dich selbst verraten und dir selbst untreu geworden bist. Oder wenn du deine Interessen auf Kosten anderer durchsetzt und andere Personen zu Objekten deiner Absichten, Erwartungen, Ziele, Bewertungen usw. gemacht hast.
So könnte es gehen. Aber dazu müsstest du dich freilich fragen, was dein Handeln würdevoll und dein Leben sinnerfüllt machen könnte. Im Internet brauchst du danach übrigens gar nicht erst zu suchen…“