Gerd Anthoff und eine Winterreise
Gerd Anthoff liest „Geschichten zur Winterzeit“. Foto: Veronika Muth
Lesung im FoolsTheater in Holzkirchen
Bei milden 16 Grad Celsius pilgern am Sonntag Scharen von Spaziergängern über die kleinen Landstraßen in und um Holzkirchen. Man sitzt im Freien, trinkt Cappuccino und genießt …den „Frühling“? In diesen klimatischen Rahmen eingebettet liest Gerd Anthoff seine „Geschichten zur Winterzeit“ und lässt zusammen mit Schlagzeuger Erwin Rehling eisige Kälte sowie wohlige Holzofen-Wärme im FoolsTheater aufkommen.
Es bleibt nicht einmal Zeit, schnell noch ein Taschentuch herauszukramen. Und auch nicht, die zwei Protagonisten des Abends in Ruhe anzusehen, ihr Erscheinen auf sich wirken zu lassen. Einleitende Worte? Wer braucht das schon!?
Lesetipp: Gerd Anthoff und Martin Kälberer: „Hirngespinste“
Der bayerische Volksschauspieler Gerd Anthoff betritt die Bühne, setzt sich, nimmt die eine Brille ab, setzt die Lesebrille auf und noch im gleichen Moment erfüllt seine Stimme volltönend und angenehm den Raum: „Nordwind bläst. Und Südwind weht. Und es schneit. Und taut. Und schneit.“ Schnell sind die braun-grünen Wiesen draußen vor der Tür vergessen. Der Winter erhält Einzug ins FoolsTheater und verlässt einen erst wieder am Ende des Abends während des Heimwegs in der fast lauen Februarnacht.
Eine Komposition aus Text und Musik
Anthoff und sein Begleiter Erwin Rehling, Schlagzeuger und Perkussionist, spielen sich die Bälle „Text“ und „Musik“ geradezu schnell und übergangslos zu. Mit Rehlings letztem Ton setzt Anthoff bewusst und zielsicher zum nächsten Gedicht oder zur nächsten Kurzgeschichte an und noch während Anthoff die letzten Sätze spricht, ist Rehling schon an einem seiner zahlreichen Schlaginstrumente und beginnt mit seiner Interpretation des gerade Gesagten, mit seiner Antwort auf das gerade Gehörte. Lesung und musikalisches Zwischenspiel wechseln sich nicht ab. Vielmehr gehört die Musik zur Lesung dazu, ist Teil von ihr. Der Abend ist eine Gesamtkomposition, die um 18 Uhr beginnt und erst nach dem zweiten Teil und zwei Zugaben endet.
Aufeinander abgestimmt: Rehlings letzter Schlag dient Anthoff als Einstieg in die nächste Geschichte. Foto: Veronika Muth
London, die Karpaten und Berg am Starnberger See
Das literarisch-musikalische Kunstwerk nimmt den Zuschauer mit auf eine vielseitige Reise: Geografisch gesehen geht es von der verschneiten Landschaft am Starnberger See zu den tiefen Taleinschnitten der wilden Karpaten. Es geht über London am Weihnachtsabend nach Nordschweden und in kleine, abgeschnittene Dörfer Norwegens und Norddeutschlands.
Schriftsteller, vorwiegend des 20.Jahrhunderts, kommen zu Wort, darunter Erich Kästner, Oskar Maria Graf, Kurt Tucholsky und Siegfried Lenz, sowie unbekanntere Autoren, wie Jan Wagner und der Norweger Alf Prøysen.
So unterschiedlich die Örtlichkeiten, so unterschiedlich die Geschichten
Es bleibt einem das Lachen im Hals stecken, wenn Kinder ungeniert darüber nachdenken, wie sie an den Malzzucker der sterbenden Oma gelangen könnten. Spannend und heiter geht es zu, wenn ein Dreijähriger einen ausgewachsenen braunen Karpatenbär mit dem Weihnachtsmann verwechselt und auf diese Weise seinen Vater und sich selbst vor einem Zusammenstoß mit dem gefährlichen Tier bewahrt. Der ein oder andere Zuschauer mag sich in Kurt Tucholskys zynischen Überlegungen zum Silvesterabend durchaus wiedererkennen. Und fast schon Stammtischatmosphäre herrscht, wenn Anthoff seinen Dialekt auspackt und laut, angeberisch vom Winter am Starnberger See erzählt, wo ein fauler Haushund zum Schlittenhund dressiert werden soll.
Keine Zeit zum Durchatmen
So geht es rasant von einer Stimmung in die nächste. Die Palette reicht von unterhaltsam, fröhlich, lustig, poetisch, zynisch-humorvoll, brachial, schelmisch, hinzu trübselig, traurig und schmerzhaft – deprimierend. Dass es meist erst ein paar Sätze lang braucht, um in jeder neuen Geschichte anzukommen, liegt nicht an Anthoff, welcher scheinbar mühelos von einer Erzählerfigur in die nächste wechselt und sich unmittelbar und sofort in neuem Raum, neuer Zeit und neuer Gefühlslage zurechtfindet. Die Geschichten berühren einfach über ihren Schlusspunkt hinaus und auch Rehlings wunderbar schräg-ungewohnte Klänge bieten wenig Freiraum zum Verdauen und Verarbeiten, sind sie selbst doch so fesselnd und mitreißend, wie die vorangegangenen Texte.
Erwin Rehling an den Kuhglocken. Foto: Veronika Muth
Kuhglocken, tönerne Vasen und ein selbstgebautes Xylophon
Der Perkussionist wechselt gekonnt zwischen einigen Xylophonen, einem Kuhglockenspiel und seinem Schlagzeug hin und her. So unterschiedlich die Instrumente sind, so differenziert ist Rehlings Spiel. Anfangs entlockt er einer Art tönernen Vase feinste, zarteste Töne, gegen Ende beeindruckt er mit einem rasant-virtuosen Stück an seinem selbstgebauten Xylophon aus zerschlagenen Fließen. Immer schneller schlägt er mit den roten, harten Schlegeln auf die Tonstücke ein und nimmt das Publikum mit in einen wirbelnden Strudel aus Tönen und Klängen.
„Gar so übermütig schicken wir sie auch nicht nach Hause“.
Am Ende warten noch zwei Zugaben auf das Publikum. Mit Kästners berühmten „Maskenball im Hochgebirge“ – unterlegt mit einem schlichten Rhythmus am Schlagzeug – performen Anthoff und Rehling endlich auch gleichzeitig. Und damit, wie er selbst erklärt, die Stimmung nicht zu ausgelassen wird, schließt Anthoff ein wenig schelmisch mit dem Gedicht „Vögel im Winter“ von dem niederbayerischen Schriftsteller Harald Grill, welches, kaum begonnen auch schon wieder endet.
Ein wohlig-winterliches Gefühl begleitet hinaus bis in die laue Nacht. Und auf dem Heimweg haben all die wunderbaren Geschichten, die ausdrucksstarke Stimme Gerd Anthoffs und die faszinierenden Klänge Erwin Rehlings endlich genügend Platz und Zeit, ihre Wirkung voll und ganz zu entfalten.