Ganz entspannt: Mit dem Zug auf die Insel
Mit der Bahn unterwegs. Foto: mi
Glosse
Wir reisen gern – und das besonders mit der Bahn. Nicht nur, weil wir etwas für die Umwelt tun wollen, nein: Vor allem finden wir es bequem. Wir müssen uns nicht durch enge Baustellen auf der Autobahn quälen, es donnern keine Monster-Lkws an uns vorbei und wir stehen nicht im Stau. Stattdessen können wir uns entspannt zurücklehnen, unsere Zeitung zur Hand nehmen oder das Buch lesen, auf das wir uns schon so lange freuen.
Im März planten mein Mann und ich eine Reise nach England und Schottland. Da wir auch das Fliegen nicht so sehr mögen, beschlossen wir, dieses Mal mit dem Zug nach London zu fahren. Von München nach London schafft man es immerhin – entweder über Paris oder über Brüssel – in knapp neun oder zehn Stunden. Man fährt also gemütlich am Vormittag los und ist zum Abendessen in London. Wunderbar – wir buchten und freuten uns.
Schaufenster in Brighton. Foto: mi
Eine Bahnfahrt, die ist lustig
Am Tag vor unserer Abreise kündigte der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky einen Bahnstreik an. Aufregend! Ich hörte es am Nachmittag gegen 16.00 Uhr im Radio. Nach kurzer Besprechung der Lage (nur maximal 20% der geplanten Züge sollten am nächsten Tag fahren) beschlossen mein Mann und ich, dass wir vielleicht noch am gleichen Abend fahren sollten – zunächst nach Frankfurt, wo wir ohnehin einen Zwischenstopp geplant hatten. Gesagt, getan. Uns blieb eine gute Stunde, um die Bayrische Regionalbahn nach München zu erwischen. Gepackt hatten wir schon, aber das Haus musste noch urlaubsfertig gemacht werden: Balkonmöbel abdecken, Kühlschrank ausräumen, Elektrogeräte vom Strom nehmen, Heizung abstellen, Abwasch machen, Schlüssel und Lebensmittel zum Nachbarn bringen – was man eben so macht, wenn man das Haus für vier Wochen verlässt. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit, aber – während andere, Jüngere als wir, vielleicht gezagt und gezaudert hätten – wir genossen das flotte Tempo und freuten uns über unsere mentale wie körperliche Elastizität. Auch mit unserer Fitness stand es gut: Mit hechelnder Zunge, aber doch ohne größeres Herzrasen erreichten wir den Zug nach München und anschließend den Zug nach Frankfurt. Es war übrigens der letzte.
Da es keine Platzkarten mehr für den Zug gab, freuten wir uns auf einen schönen Stehplatz, wurden vom Schaffner dann aber doch genötigt, einen der vorhandenen Sitzplätze zu nutzen. Um halb zwölf kamen wir in Frankfurt an, unterwegs hatte ich noch rasch ein Hotel gebucht, der Empfang im Hotel war freundlich. Die Betten in unserem Zimmer waren allerdings, ohne jetzt negativ sein zu wollen, völlig zerwühlt. Wohnte hier noch jemand? Wir sind keine Spielverderber, bestanden dann aber doch auf einem frisch gemachten Bett. In dem Falle, beschied der Rezeptionist, müssten wir eben das Hotel wechseln, denn dies sei das einzige noch freie Zimmer. Er empfahl ein etwa 200 Meter weiter befindliches, zu einer günstigen Hotelkette gehörendes Hotel in Bahnhofsnähe. Inzwischen war es Mitternacht, bei romantischem Mondlicht schoben wir unsere Rollkoffer durch die Frankfurter Kaiserstraße und bekamen ohne Umstände ein Zimmer in dem empfohlenen Hotel. Zwar zuckten wir etwas, als wir den Preis hörten (273 Euro), wollten uns aber dem Mann an der Rezeption gegenüber keine Blöße geben. Außerdem, so fanden wir, muss man für ein kleines Abenteuer auch mal bereit sein, etwas Geld hinzulegen. Es lohnte sich, denn am nächsten Tag durften wir, als das Wasser in der Dusche partout nicht abfließen wollte, das gesamte Badezimmer mit den schönen weißen Handtüchern auslegen – ein aufregendes Experiment, für das ich meinen Mann zu Hause sehr gescholten hätte.
Zwei Tage später, an unserem geplanten Reisetag nach London, war der Bahnstreik (vorerst) beendet. Schade irgendwie, dass nun alles wieder normal lief, unser Zug fuhr auf die Sekunde pünktlich los und der Kick war irgendwie raus. Enttäuscht und fast missmutig holte ich mein Buch („Meine Reise mit Charley“ von John Steinbeck) aus dem Rucksack und wollte bis zum Umstieg in Brüssel nicht mehr gestört werden.
Freundschaften fürs Leben – mit der Deutschen Bahn
Der Zug hielt in Aachen. „Aufgrund technischer Störungen endet unser Zug hier“, ertönte es über den Lautsprecher. „Bitte steigen Sie alle aus und warten hier auf den nächsten Regionalzug.“ Der Bahnsteig war voll mit Wartenden, wir standen dicht an dicht und obwohl wir eigentlich Menschenmassen nicht so sehr mögen, fühlten wir uns irgendwie wohl unter all den Menschen. Als eine halbe Stunde später der Regionalzug einfuhr, wurden wir leider von den uns Umstehenden getrennt: Zwei nette Ehepaare mit fünf aufgeweckten Kindern, ein alleinstehender Herr mit Hund und eine ältere Dame mit zwei Koffern – wir hätten gern ihre nähere Bekanntschaft gemacht. Schon im Regionalzug nach Welkenraedt schlossen wir jedoch neue Freundschaften. Die Gespräche drehten sich zwar nur um Anschlüsse, Verbindungen und Umsteigemöglichkeiten (ich hätte gern mal über mein Buch gesprochen), aber trotzdem: alles nette Leute. Im belgischen Grenzstädtchen Welkenraedt ging es dann mit dem nächsten D-Zug unverzüglich weiter nach Brüssel, es lief wie am Schnürchen.
John Steinbeck war inzwischen längst wieder in meinem Rucksack gelandet – wozu lesen, wenn man andere Menschen kennenlernen kann? Wir hatten viel Spaß und ignorierten sogar diese kleine Sorge, die sich in unseren Hinterkopf schlich: Unseren nach London gebuchten Eurostar würden wir nicht mehr erreichen. Nun ist der Eurostar reservierungspflichtig – anders als in der Deutschen Bahn gibt es keine Stehplätze – würde es also in einem der nachfolgenden Züge nach London noch einen Platz geben?
Als wir Brüssel erreichten, erschreckte uns ein Mitarbeiter des Eurostar fast zu Tode. Er begrüßte er uns mit den Worten „Wir haben schon auf Sie gewartet. Ihr Zug ist zwar weg, aber der nächste Zug steht schon abfahrbereit für Sie bereit.“ Das alles sagte er mit einem ausgesprochen freundlichen Lächeln. Darauf waren wir nicht vorbereitet. Wir verarbeiteten den Schock mit Hilfe eines belgischen Biers und kamen verspätet, aber am selben Tag in London an. Was will man mehr?
Ein belgisches Bier. Foto: mi
Zufrieden reisten wir weiter – zunächst nach Brighton, dann in den South Downs National Park, anschließend nach Northampton und in die Yorkshire Moors und schließlich nach Schottland.
In den Yorkshire Moors. Foto: mi
Verlass auf die schottische Bahn
Vier Wochen später, pünktlich zu unserer Heimreise, streikte die englische Bahn. Wir waren ebenso verblüfft wie erfreut: Das musste eine Absprache mit der Deutschen Bahn sein – und das trotz Brexit! Es gibt eben doch noch gute Nachrichten. Schade nur, dass die schottische Bahn nicht mitstreiken wollte, denn unsere Rückreise begann auf dem schottischen Kopfbahnhof Milngawie (ausgesprochen: Milgai) in East Dunbartonshire. Von dort sollte es weiter nach Glasgow und Edinburgh und schließlich nach London gehen. Was soll ich sagen – Streik hin oder her: Die schottische Bahn enttäuschte nicht. Der erste Vorortzug nach Glasgow fiel aus, der zweite auch. Also zückten wir unser Telefon und riefen ein Taxi. Das sollte zwar bereits nach 45 Minuten kommen, aber es war kalt und windig (Schottland!) und wir – zugegeben, das war ein bisschen ungezogen – wurden ungeduldig. Etwa zehn Minuten später erspähten wir ein Taxi, winkten und wurden prompt mitsamt unserem Gepäck eingeladen. Nach etwa zwei Kilometern Fahrt kam dem Taxifahrer allerdings etwas in den Sinn, jedenfalls fragte er mich unvermittelt: „Sind Sie Amanda?“, was ich wahrheitsgemäß verneinte. „Dann kann ich Sie nicht fahren“, erklärte er, drehte um und kehrte zum Bahnhof zurück. Dort stand Amanda. Amanda wollte auch nach Glasgow und hatte nichts dagegen, dass wir mitfuhren. Der Taxifahrer fand zwar, das sei gegen die Regeln, aber das doppelte Fahrgeld wog schwerer. Amanda sprach nicht viel, weil sie mit ihrem Handy beschäftigt war, wir freuten uns aber doch, dank des schottischen Nicht-Streiks ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.
Der Rest unserer Reise nach London ist fast langweilig und schnell erzählt: Wir schafften alle Anschlüsse und kamen pünktlich an. Abends im Pub entspannten wir bei einem Pint India Pale Ale, als sich das Handy bemerkbar machte. Es war die Deutsche Bahn, die uns darauf aufmerksam machte, dass unser Zug von Brüssel nach München am morgigen Tag komplett gestrichen sei. Vor lauter Freude tranken wir gleich noch ein Pint.
Abends im Pub. Foto: mi
Um sieben Uhr morgens am nächsten Tag bestiegen wir den Eurostar, der uns pünktlich nach Brüssel brachte. Dort, auf bequemen Drahtstühlen in der Bahnhofshalle, warteten wir bei einer Tasse Kaffee (für die wir auch im Mandarin Oriental nur wenig mehr bezahlt hätten) geduldig auf einen Zug nach München. Mit nur knapp vier Stunden Verspätung kamen wir schließlich – wohlbehalten und reich an unvergesslichen Urlaubserlebnissen – daheim an.
Für den Herbst hatten wir eigentlich einen Abenteuerurlaub geplant – Südamerika oder Australien. Das lassen wir jetzt. Wir fahren nach Nürnberg – mit der Deutschen Bahn.
Zum Weiterlesen: Ein magischer Sommer in England