Good bye, Lenin!
Wladimir Iljitsch Lenin – russischer Revolutionär. Foto: pixabay
Glosse zum Sonntag – Vom Einmaleins des Friedens
Evelyn und ich haben gemeinsam die Schulbank gedrückt, bis zum Abitur — in Magdeburg. Kaum hatte Russland die „militärische Operation“ in der Ukraine begonnen, erhielt ich eine WhatsApp von der Freundin. „Für uns Ostkinder“, schrieb sie entsetzt, „ist es außerhalb jeder Phantasie, nicht in Frieden zu leben“.
Für uns Ostkinder? Ich musste nachfragen. „Na erinnerst du dich denn nicht“, antwortete Evelyn, „der Krieg ist doch bei uns in der Schule immer ganz großes Thema gewesen. Und wir sind doch mit der Gewissheit großgeworden, dass erstens von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen wird. Und zweitens“, so fuhr sie fort, „haben wir gelernt, dass die Sowjetunion als das mit etwa siebenundzwanzig Millionen Kriegstoten am schlimmsten vom zweiten Weltkrieg betroffene Land nie einen Krieg beginnen wird. Das war doch unumstößlich“, so schloss sie, „einfach wie ein Naturgesetz“, und setzte ein dickes Ausrufungszeichen hinter ihren letzten Satz.
Natürlich, ich erinnerte mich. An die Losungen, die – weiße Schrift auf roten Bannern – beständig von den Häuserwänden leuchteten und die Bevölkerung aufrüttelten: „Gemeinsam für Frieden und Sozialismus!“ — „Unverbrüchliche Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion, den Pionieren im Kampf um Frieden und Sozialismus!“ — „Es lebe das unbesiegbare Lager des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus unter Führung der mächtigen Sowjetunion!“ oder „Unser Arbeitsplatz – Kampfplatz für den Frieden.“
Ohne Kampf für den Frieden ging es nicht und so kämpften wir alle: Die Arbeitsbrigaden in der sozialistischen Produktion, die Genossenschaftsbauern in den LPGs, die werktätigen Frauen am Arbeitsplatz, die Muttis und Vatis zu Hause bei der sozialistischen Familienerziehung. Auch wir Kinder kämpften — erst im Kindergarten, dann in der Schule.
„Seid bereit, immer bereit!“— Ausweis der Jungpioniere. Foto: Evelyn Respondek.
Neben dem Einmaleins lernten wir, ganz spielerisch, die Flugbahn einer sowjetischen Rakete zu berechnen. Das war wichtig — damit wir diese für den Fall eines imperialistischen Angriffskriegs haargenau ins Ziel kriegten. Für den Nahkampf lernten wir — die „Gesellschaft für Sport und Technik“ nahm uns unter ihre ebenso fürsorglichen wie professionellen Fittiche — das Schießen mit dem Gewehr.
Erst kürzlich, auf dem Oktoberfest, konnte ich meinen Freund Thomas mit meinen Fähigkeiten an der Schießbude beeindrucken. Nachdem er — immerhin nach neun Schuss — die verdammte Rose für seine Frau Eva immer noch nicht geschossen hatte, sagte ich: „Gib mal her“, legte an — und zack, war die Rose unten.
Brief von Lidia aus Nikopol im Süden der Ukraine. Foto: Evelyn Respondek.
Neben den eher naturwissenschaftlichen und sportlichen Ausbildungsinhalten gab es natürlich auch geisteswissenschaftliche Fächer. Wir lernten zum Beispiel Russisch, damit wir uns im unbesiegbaren Lager des Friedens auch mit den Völkern der Sowjetunion unterhalten konnten. Als Mitglieder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft trafen wir uns mit Offizieren der Roten Armee und plauderten mit ihnen über den Frieden. Auf DDR-Briefpapier, fein bedruckt mit Panzern, Kriegsschiffen und Jagdflugzeugen, schrieben wir an Irina in Moskau, an Tamara in Leningrad und an Oleg in Odessa.
DDR-Briefpapier. Foto: Hannah Miska.
Gern hätte ich jetzt, genauso wie mit dem Schießen, auch ein wenig mit meinen Sprachkenntnissen geprotzt, aber der Mann im Kreml hebt nicht ab. Das ist schade. Ich hatte nämlich vor, ihm von meinem Aufsatz zu erzählen, den ich in der 10. Klasse geschrieben habe — es hätte ihn bestimmt interessiert. Das Thema hieß: „Lenin – mein Vorbild“. Mein Aufsatz war, jedenfalls in den Augen meiner Deutschlehrerin, so gut, dass er kurz darauf an der Wandzeitung hing. Die Deutschlehrerin kannte sich aus — sie hatte nach Angaben von Mitschülern ein großes Leninbild in ihrem Wohnzimmer hängen —, ich jedoch schämte mich für die ungewollte Auszeichnung.
Zu Recht, wie sich erst jetzt, Jahrzehnte später, herausstellt. Denn Lenin ist kein Vorbild. Der russische Revolutionär hat, vermutlich ermattet von der Oktoberrevolution, die Ukraine hergeschenkt — einfach so — und von der jungen Sowjetunion abgeschnitten. Das war nichts anderes als Diebstahl. Der vermeintliche Kommunist Lenin hat Mütterchen Russland dieses historisch russische Land, die Ukraine, geklaut.
Ja, ich schäme mich für meinen Aufsatz, heute mehr denn je, und gern hätte ich mich bei Herrn Putin dafür entschuldigt. Gern wüsste ich auch, was meine alte Deutschlehrerin nun mit ihrem großen Leninbild macht.
Lesetipp: Russlands historisches Erbe