Neue Impulse für die Heimatpflege
Dr. Simone Egger. Foto: Isabella Krobisch
Symposium in Miesbach
Heimat ist ein Phänomen mit vielen Aspekten und Widersprüchen. Das macht das Thema spannend, aber auch schwer fassbar. In neun Vorträgen gingen renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beim Symposium „Heimat – begrenzt unbegrenzt“ am 24. September 2022 im Kulturzentrum Waitzinger Keller in Miesbach dem Thema auf den Grund.
Was heißt Heimat? Ist es vor allem das Gefühl der Zugehörigkeit? Oder nur der Ort, an dem wir geboren und/oder aufgewachsen sind? Ist es der Dialekt, die Landschaft, die Natur, die Geschichte, die Architektur, die Kunst, die Kultur? Wie wichtig ist Heimat in einer sich rasant verändernden, globalisierten Welt? Was steckt hinter der Renaissance des Heimatbegriffs?
Lesetipp: „Heimat – begrenzt unbegrenzt“
Initiator Franz-Josef Rigo. Foto: Isabella Krobisch
Die angeregten, manchmal auch kontroversen Diskussionen im Anschluss an die Beiträge belegten das große Interesse der rund 40 Besucherinnen und Besucher, darunter viele Fachleute. Der Titel „begrenzt unbegrenzt“ war durchaus programmatisch. „Wir hätten locker zwei Tage füllen können“, sagte Initiator Franz-Josef Rigo. Ein Jahr lang hatte der Journalist und Historiker aus Bad Wiessee gemeinsam mit dem Augsburger Literaturwissenschaftler Klaus Wolf und dem Historiker Wilhelm Liebhart aus Altomünster die Tagung vorbereitet. Dafür und für das Team vom Kulturamt der Stadt Miesbach unter Leitung von Isabella Krobisch gab es einhelliges Lob.
Offenheit statt Ausgrenzung bei Heimatpflege
Dr. Rudolf Neumaier. Foto: Isabella krobisch
Bereits im Grußwort von Rudolf Neumaier wurde deutlich, dass es bei der Heimatpflege nicht nur um den Erhalt und die Gestaltung bestehender Werte geht, sondern auch um eine verantwortungsvolle Weiterentwicklung. „Wir brauchen neue Impulse“, forderte der Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege. Der Schriftsteller und Publizist Norbert Göttler, seit zwölf Jahren hauptamtlicher Bezirksheimatpfleger Oberbayern, machte sich für einen integrativen Heimatbegriff stark, in dem Offenheit statt Ausgrenzung das Handeln bestimmt. Auch strukturelle Veränderungen mit mehr hauptamtlichem Personal und eine inhaltliche Öffnung der Heimatpflege hält der angesehene Experte für notwendig. „Alte Klischees sind nicht zukunftsfähig“, warnte Göttler.
Dr. Norbert Göttler. Foto: Isabella Krobisch
Das Heimatbuch als Universalgeschichte im Kleinen
Professoer Wilhelm Liebhart. Foto: Isabella Krobisch
Wilhelm Liebhart plädierte für eine Professionalisierung der Heimatpflege und eine Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen. Das Erstellen eines Heimatbuchs sei eine anspruchsvolle Aufgabe, die fachlicher Expertise bedürfe, um allen Aspekten gerecht zu werden. Der neutrale Blick von außen ermögliche den notwendigen wissenschaftlichen Zugriff, machte Liebhart deutlich. Dem oftmals abfällig gebrauchten Begriff der Heimatforschung stellte er den Terminus Mikrogeschichte gegenüber. „Ein Heimatbuch ist im Idealfall eine Universalgeschichte im Kleinen.“ Simone Egger wandte ein, dass der weibliche Blick meist zu kurz komme. „Ortsgeschichten werden von Männern für Männer geschrieben. Die Lösung kann nicht sein, neue Kapitel anzuhängen“, sagte die Kulturwissenschaftlerin aus München.
Wider das Prekariats-Nordisch
Professor Reinhard Wittmann. Foto: Isabella Krobisch
Eine lebhafte Debatte löste Reinhard Wittmanns „notwendige Polemik“ zum Verhältnis von Hochsprache und Dialekt aus. Der im Landkreis Miesbach beheimatete Literaturwissenschaftler machte seinem Unmut energisch Luft und prangerte wortmächtig den „Verfall der Hochsprache“ und das „Prekariats-Nordisch“ an, die überall – auch in den Medien – bemerkbar seien. „Der sprachliche Einheitsbrei macht unsere Welt ärmer, abstrakter und kälter“, kritisierte Wittmann und forderte die Erhaltung und Pflege beider Sprachebenen. „Mundart kann mündig machen gegen Bevormundung“, schloss der Buchwissenschaftler, dem das geschriebene und das gesprochene Wort gleichermaßen am Herzen liegen.
Bedürfnis nach Sicherheit, Vertrautheit und Zugehörigkeit
Eine andere Facette von Heimat beschrieb Simone Egger, den „Sehnsuchtsort zwischen Pop und Politik“. Bei jungen Menschen sei Heimat so populär wie nie zuvor. Längst mache sich die Werbung den Heimattrend zunutze, ob beim Marketing für Dinkelnudeln oder in der Politik. Nicht unbedingt rationale Überlegung, sondern das Bedürfnis nach Sicherheit, Vertrautheit und Zugehörigkeit begünstige die Popularität des Heimatlichen. Die rückwärtsgewandte Beschwörung einer Idylle („Sehnsuchtsort“) beinhalte aber ein abgrenzendes Moment. Andererseits könne Heimat als offener Ort begriffen werden, wo vieles gleichzeitig stattfinden kann. „Die Gesellschaft ist global vernetzt und gleichzeitig in der Heimat Bayern verankert“, konstatierte Egger.
Kreisheimatpfleger Karl Braßler und seine NS-Vergangenheit
Dr. Dirk Walter. Foto: Isabella Krobisch
Dirk Walter belegte, wie die Diskreditierung des Heimatbegriffs durch die Nationalsozialisten nachwirkte. „In den 50er-Jahren existierte Heimatpflege ohne Vorgeschichte“, stellte der Redakteur aus München in seinem Referat über den Fall Karl Braßler fest. Walters Recherchen ergaben, dass Braßler in den frühen Jahren der Weimarer Republik ein extrem antisemitischer NS-Aktivist war. Er habe im „Völkischen Beobachter“ beispielsweise scharfe Sanktionen gegen Juden gefordert. Dessen ungeachtet war er in den 1950er-Jahren Kreisheimatpfleger in Bad Aibling. In der Diskussion wurde deutlich, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit längst nicht abgeschlossen ist und nicht selten auf Widerstand stößt.
Ursprung der Heimatkunst in Norddeutschland und im Elsass
Professor Klaus Wolf. Foto: Isabella Krobisch
Klaus Wolf referierte über „Heimatkunst – zwischen politischer Problematik und unsicherer Literaturgeschichtsschreibung“. Der Ursprung der Heimatkunst sei nicht in Oberbayern, sondern in Norddeutschland (Hermann Löns) und im Elsass. „Die Heimatkunstbewegung war entschieden gegen die Moderne eingestellt“, sagte Wolf. Eine einheitliche Definition des literaturgeschichtlichen Begriffs Heimatkunst gebe es nicht. Während Ludwig Ganghofer im Hinblick auf die Verständlichkeit für eine breite Leserschaft einen „Kunst-Dialekt“ gewählt habe, hätten Emerenz Meier und Lena Christ mit geradezu staunenswerter Präzision ihren Heimatdialekt wiedergegeben und die kleinbäuerliche Welt geschildert. Auch Peter Dörfler sei mit seiner soziologischen Betrachtung des Lebens im Allgäu ein Heimatdichter. Als Beispiele für sehr erfolgreiche Bühnenautoren nannte der Literaturwissenschaftler neben die Ingolstädterin Marieluise Fleißer, den Franken Fitzgerald Kusz („Schweig Bub“), den Niederbayern Martin Sperr („Jagdszenen aus Niederbayern“) und den gebürtigen Münchner Franz-Xaver Kroetz.
Im Schnitt kommt ein Politiker auf 1000 Bürger
Dr. Julia Mattern. Foto: Isabella Krobisch
Julia Mattern skizzierte in ihrem Vortrag „Heimat = Partizipation“ die Bedeutung der Teilhabe. In ihrer Studie „Dörfer nach der Gebietsreform“ untersuchte die Historikerin die Auswirkungen der kommunalen Neuordnung in Bayern auf kleinere Gemeinden. 5021 Dörfer verloren zwischen 1969 und 1978 ihre politische Selbständigkeit, vielerorts mit negativen Folgen. „Kleinere Dörfer stagnierten oder schrumpften, die Bodenrichtwerte blieben auf niedrigem Niveau“, so Matterns Erkenntnis. Durch den Zusammenschluss, der häufig gegen die Proteste der Bevölkerung durchgesetzt wurde, sei die Verwaltung zwar leistungsstärker und professioneller geworden. Dem stehe aber ein Verlust an Bürgernähe, an Teilhabe und an politischer Präsenz gegenüber. „Im Schnitt kommt ein Politiker auf 1000 Bürger“, stellte Mattern fest. Im Gegenzug sei ein Erstarken von privaten Initiativen zu beobachten, z.B. die Gründung eines eigenen Kindergartens. Die angestrebte größere Kosteneffizienz der Kommunen habe sich nicht bestätigt, auch die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sei nicht erreicht worden. „Die Gebietsreform war eine systematische Entmündigung von oben nach unten“, lautete Matterns Fazit.
Schüren von Angst vor Identitätsverlust
Dr. Daniela Sandner. Foto: Isabella Krobisch
Hochaktuell war die abschließende Analyse von Daniela Sandner: „Bedrohte Heimat? – Zur Vereinnahmung der Heimat(pflege) von rechts“. Der Begriff Heimat werde von Parteien und Gruppierungen der politischen Rechten ausschließlich territorial und ethnisch homogen verstanden. Die Angst vor Identitätsverlust durch Globalisierung und Migration und vor dem Verlust der Heimat durch Überfremdung werde geschürt. Mit der Gleichsetzung von kultureller Identität und Nation grenze man sich ab. Das von der neuen Rechten reklamierte Konzept des Ethnopluralismus propagiere die Ablehnung von Fremden und fordere als Voraussetzung für eine Integration die völlige Selbstaufgabe. Das Ziel, so Sandner, sei eine „konservative Kulturrevolution“.
Die Ethnologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege, beobachtete eine deutliche programmatische Verschiebung seit 2017. „Das Thema Heimat ist in den Wahlprogrammen angekommen“, sagte Sandner. Ein internes Strategiepapier der AfD belege die konkrete Vereinnahmung. Gefährdet seien auch Heimatvereine, warnte sie. Mit Beispielen aus der Region verdeutlichte die Referentin, dass die rechtspopulistische Partei in Bayern aktiv ist. So habe eine AfD-Anfrage maßgeblich dazu beigetragen, dass die historische Rottbrücke in Neuhaus am Inn saniert wird. Die AfD sei auch die einzige Partei gewesen, die gegen den Abriss des Verstärkeramts in Kochel interveniert habe. Trotz Denkmalschutz wurde das Gebäude abgebrochen.
Professionalisierung und Stärkung der Heimatpflege
Franz-Josef Rigo, Norbert Göttler, Simone Egger, Klaus Wolf, Rudolf Neumaier (v.l.). Foto: Isabella Krobisch
In der kurzen abschließenden Talkrunde wurde deutlich, wie schwer es ist, das Interesse für die Heimatpflege in der Öffentlichkeit zu wecken. Häufig fehle bei Parteien und Medien das Bewusstsein für deren Bedeutung und auch für die Gefahr einer Vereinnahmung von rechts. Umso wichtiger seien die ehrenamtliche Arbeit, die Professionalisierung und Stärkung der Heimatpflege, das Engagement der örtlichen Heimatvereine und eine aktive Öffentlichkeitsarbeit. Gerade junge Menschen müssten für das Thema Heimat gewonnen werden. Aufgaben gebe es zur Genüge, im Landkreis Miesbach zum Beispiel das – seit langem ungenutzte – Ludwig-Thoma-Haus in Tegernsee. Die Zukunft des historischen Gebäudes ist noch immer ungeklärt.