Hermann Stresau

Das kann unmöglich gutgehen

Hermann Stresau: Von den Nazis trennt mich eine Welt. Foto: mi

Buchtipp von KulturVision

Beeindruckendes Zeitdokument: Die Tagebücher des deutschen „Normalbürgers“ Hermann Stresau, geschrieben während der Zeit des Nationalsozialismus und wiederentdeckt von Peter Graf und Ulrich Faure, sind nicht weniger als eine kleine Sensation.

Das Jahr fängt nicht gut an für ihn: Von einem zwielichtigen Bauunternehmer betrogen, muss er – weil sein neues Haus am Stadtrand von Berlin noch komplett unbewohnbar ist – gemeinsam mit seiner Frau und dem Hund in eine Notunterkunft ziehen, eine Art Laube mit einem einzigen Wohnraum. Am Tag nach dem Einzug, das Ehepaar hat sich noch nicht einmal notdürftig eingerichtet, erhält Hermann Stresau, Bibliothekar in einer städtischen Berliner Bibliothek, seine Kündigung: Er hat sich dienstlich zwar nichts zuschulden kommen lassen, hat sich aber offenbar kritisch gegenüber der neuen Regierung geäußert. Die ist da – wir schreiben den 4. April 1933 – gerade mal zwei Monate im Amt. Zwei Tage nachdem er die Kündigung erhält, am 6. April 1933, beginnt Hermann Stresau, Tagebuch zu schreiben.

Alltagsnotizen mit kritischem Blick

Die Tagebuchaufzeichnungen sind ein bemerkenswertes Zeitzeugnis – und das obwohl Hermann Stresaus Schicksal, wie er selbst sagt, eins von Tausenden ist und er „keine Sensationen“ zu berichten hat. Aber er ist ein präziser Beobachter, er liest Zeitung, hört Radio – und notiert, was um ihn herum und in Deutschland passiert, wie sich seine Umwelt, die Lebensbedingungen, die Menschen in der heraufziehenden NS-Diktatur entwickeln und verändern. Das Sensationelle dabei ist der scharfe, analytische Verstand, mit dem Hermann Stresau das Zeitgeschehen unter die Lupe nimmt, die Klarsicht, mit der er die Propaganda der Nazis durchschaut, und die – hellsichtigen – Schlüsse, die er zieht. Schon früh wird ihm klar, dass er ins KZ wandern wird, falls die Tagebücher gefunden werden.

Dabei ist Hermann Stresau nicht per se Nazi-Gegner. 1894 als Sohn deutscher Eltern in Milwaukee geboren, zieht er mit seiner Familie als Sechsjähriger nach Deutschland, macht in Frankfurt am Main Abitur und studiert in Berlin, Frankfurt, München, Greifswald und Göttingen Germanistik, Kunstgeschichte, Philosophie und Geschichte. 1914 unterbricht er das Studium und meldet sich freiwillig zum Kriegsdienst: Er ist aus vollem Herzen Deutscher und blickt durchaus kritisch auf die Ergebnisse der Politik der Weimarer Republik. Vielleicht wäre ja tatsächlich eine Staatsautorität, die ihre Macht zu gebrauchen weiß, eine Lösung? „Man macht sich vielleicht nicht genügend klar, was sich einmal aus diesem Gebrodel als ein großer Schritt in eine gute Zukunft herausstellen könnte“, konzediert er. Er gibt der NS-Regierung also eine Chance, stellt sie jedoch immer wieder auf den Prüfstand. Das Urteil fällt selten gut aus.

Vom Gift der Diktatur

Hermann Stresau, der sich nach seiner Kündigung mit Buchrezensionen und Übersetzungen, Essays und Aufsätzen für Zeitungen nur mühsam über Wasser hält, wird mehrfach nahegelegt, in die SA einzutreten: Dann könnten doch mit einem Schlage die beruflichen Hindernisse beseitigt werden. Aber, geradlinig und unbestechlich, lehnt er das ab. „Bis mir das Wasser zum Halse steigt, werde ich nicht zu Kreuze kriechen. SA – unmöglich.“ Ein Kollege lässt durchblicken, dass er in die SS eintreten werde – das sei die feinere Innung.

Er beobachtet genau, welche Seiten die Diktatur in den Menschen hervorbringt: die mangelnde Courage, den vorauseilenden Gehorsam, das Denunziantentum, das das gesellschaftliche Miteinander so sehr vergiftet. Das reicht bis in die Familie und private Kreise hinein. „Diese vom Nationalsozialismus (oder was sich so nennt) erfüllte Atmosphäre dringt in alle Ritzen, wie ein Giftgas, es stört die normalen geistigen Funktionen“, schreibt er, und fügt hinzu: „Der Kreis der Menschen, zu denen wir innerlich gehören, wird immer kleiner.“ Mit Bedauern stellt er fest, dass Zivilcourage leider auch bei denen fehlt, die sich’s leisten könnten.

Immer und immer wieder ist Hermann Stresau, ein großer Stilist, entsetzt über die aufgeblasene und pompöse Sprache der Nazis. Eine derartige Sprach- und Begriffsinflation sei noch nie dagewesen. „Diese Herrschaft der Ignoranz, der absolut sinnlosen Phrase, des hemmungslosen Gequassels…“ Gleichzeitig sieht er, wie sich die Massen von genau dieser Rhetorik begeistern lassen und versucht, das Geheimnis dieses Erfolgs zu entschlüsseln. Im September 1933 notiert er: „Schon jetzt sehnt man den Aschermittwoch herbei, der auf diesen Karneval folgen muss.“

Ausgrenzung, Größenwahn und Gigantismus

Geradezu mit Empörung nimmt Hermann Stresau, der gewöhnlich mit einer disziplinierten Distanz schreibt, im gleichen Monat den Entwurf zu den Rassengesetzen zur Kenntnis. Er spricht von der „Unmenschlichkeit und Gemeinheit dieses Gesetzentwurfs – der ja nur auf die Juden abzielt…“ und hält das Ganze obendrein für „eine politische Dummheit ersten Ranges“. Dafür, da ist er sich mit Freunden sicher, werden die Deutschen einmal teuer bezahlen müssen. Stresaus Sichtweise hier ist bemerkenswert, da der deutsche Widerstand, zumindest in Teilen, oft blind war gegenüber der Judenverfolgung.

Nachdem der Gesetzentwurf zwei Jahre später mit dem „Reichsbürgergesetz“ und dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ geltendes Recht geworden ist, fragt sich Hermann Stresau, „warum die Mächte, die so sehr für Gerechtigkeit und Humanität sind, nicht spätestens nach Verkündung der Nürnberger Gesetze, die praktisch dem Rechtsstaat die Grundlage entzogen haben, die diplomatischen Beziehungen abgebrochen haben, warum sie diese Regierung überhaupt anerkannt haben.“

Aufmerksam beobachtet er auch die Außenpolitik und ahnt früh, dass Hitlers mangelnde Kompromissbereitschaft, der Größenwahn und der Gigantismus des Nationalsozialismus unweigerlich zum Krieg führen werden. „Das kann unmöglich gutgehen.“

Unermessliche Sehnsucht nach normalen Verhältnissen

Zur Erholung und zum Stressabbau dienen den Hermann Stresau Spaziergänge, an denen er uns mit unvergleichlich poetischer Sprache teilhaben lässt: „Ein Sonntag war das wie wenige, Wolken schwammen in sommerlicher Bläue.“ Außerdem wird im Hause Stresau viel gelesen und das Ehepaar tauscht sich ständig aus über seine Lektüre. „Grete liest Hitlers Kampf wie einen Roman, sie liest besonders markante Stellen daraus hervor, damit ich auch was davon habe. Man reibt sich förmlich die Augen und sieht, sieht… Wann wird sich die ganze Nation die Augen reiben und sehen?“

Das Ehepaar ist erfüllt von einer „unermesslichen Sehnsucht nach normalen Verhältnissen“. Dass die nicht kommen, zeigt sich erneut, als die Synagogen im November 1938 brennen. Hermann Stresau, der schon lange zuvor einen benachbarten jüdischen Arzt und dessen Familie zur Ausreise gedrängt hat, zieht wie wenige den messerscharfen Schluss: „Die Vernichtungskampagne beginnt.“

Der letzte Eintrag im Tagebuch erfolgt am 1. September 1939. Die Stresaus hören morgens um sieben im Radio, dass die deutschen Truppen die polnische Grenze zum Gegenangriff überschritten haben. Das Wort „Gegenangriff“ setzt Hermann Stresau in Anführungszeichen.

Die Aufzeichnungen – 1948 bereits einmal in gekürzter Fassung erschienen, jedoch damals ohne größere Resonanz – sind hochspannend, Hermann Stresaus Fragestellungen und Gedanken bisweilen von bemerkenswerter Aktualität. Den Herausgebern Peter Graf und Ulrich Faure sei Dank für die Wiederentdeckung.

Hermann Stresau: Von den Nazis trennt mich eine Welt. Tagebücher aus der Inneren Emigration 1933-1939. Klett-Cotta 2021, 448 S., 24 Euro. Zur weiteren Lektüre empfohlen: Hermann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt. Tagebücher aus den Kriegsjahren 1939-1945. Klett-Cotta 2021, 592 S., 28 Euro.

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