Hoch und heilig – vom Pilgern in den Alpen
Zwölf Pilgerwege im Alpenraum – u.a. von Tegernsee nach Schliersee. Foto: Ines Wagner
Buchtipp der Redaktion
Uralte Pilgerwege, Wallfahrten und Bittgangswege ziehen sich seit Jahrhunderten durch die Alpen. Autorin Sandra Freudenberg hat gemeinsam mit Fotograf Stefan Rosenboom zwölf davon in einem Buch zusammengefasst. Drei liegen ganz bei uns in der Nähe: in der Wendelsteinregion, zwischen Tegernsee und Schliersee und im Tölzer Land.
„Hoch und heilig – Pilgerwege in den Alpen“ heißt der Bildband. Wenn man ihn in die Hand nimmt, durch die Seiten blättert und sich einliest, macht sich ein gewisses Ziehen in der Brust breit. Das ist die Sehnsucht, loszulaufen. Bis man – wer weiß? – tatsächlich den Rucksack packt, die Wanderstiefel schnürt und loszieht. Sandra Freudenberg und Stefan Rosenboom haben drei Jahre lang die Alpen durchquert. Bei Sonnenschein und bei Regen, bei Nebel und Schnee. Haben in Berghütten und Landgasthöfen übernachtet oder im Freien gebiwakt. Haben sich Wallfahrten angeschlossen, Menschen bei ihrem Glauben beobachtet und die Macht des Glaubens am eigenen Leib erlebt. Auf alten Karten und in Archiven haben sie nach Spuren vergessener Wege gesucht, um sie neu zu begehen. Das Pilgern hat sie verändert.
Auf dem Weg zum Pfänder stapfen die Pilgernden durch den Schnee. Foto: Stefan Rosenboom
Tradition des Bittgangs
Sandra Freudenberg, die Kunstgeschichte und Philosophie studierte, als Journalistin bei namhaften Zeitungsverlagen arbeitete und heute das Alpenfilmfestival organisiert, ist eine passionierte Bergsteigerin. Stefan Rosenboom ist als freier Fotograf überall dort unterwegs, „wo das Sehen spannend und bereichernd ist“. Mit dem Buch möchten sie Menschen ermutigen, die uralte Tradition des Bittgangs wieder aufleben zu lassen und sich auf einen persönlichen, heiligen Weg zu begeben. Egal, ob man eine Fragestellung, ein Anliegen oder einen Dank dafür, dass etwas Wichtiges in Erfüllung gegangen ist, im Herzen trägt.
Pilgern ist nicht Schönwetterwandern – das weiß auch Fotograf Stefan Rosenboom. Foto: Martin Will
In zwölf Kapiteln beschreiben sie geheimnisvolle Routen in Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz. Dabei gehen sie den Menschen, Geschichten, Hintergründen und Wundern nach, die es dort zu entdecken gilt. Kurze Touren sind ebenso darunter wie Mehrtageswanderungen. Sie führen zu Kapellen, Klöstern, Kraftplätzen und Wallfahrtsorten. Am Ende jedes Kapitels gibt es eine Zusammenfassung zur Route mit Wegeverlauf und nützlichen Tipps.
Heumahd und Holunderduft
Die poetische Text- und Bildsprache lässt eine geheimnisvolle und naturnahe Welt aufscheinen, die auch dem letzten oder vorletzten Jahrhundert entsprungen sein könnte. Zeitlos ist die Pilgerei in den Alpen, wenn sich der Blick der Gehenden nach Innen richtet oder auf die Schönheiten von Landschaft, Brauchtum und Jahrhunderte alten Traditionen: „Die Bauernrosen debütieren zart, und auf der Hausbank des Wiesenbauern flicht eine Frau gerade die Zöpfe eines jungen Mädchens“, heißt es etwa, und: „Ein sanftes Lüftchen vermischt die Aromen der Heumahd mit dem honigsüßen Duft des frisch aufblühenden Holunders“.
Rasten ist eine Wohltat beim Pilgern – hier an einem Quellheiligtum. Foto: Stefan Rosenboom
Sehnsucht wächst beim Lesen und Durchblättern des Buches. Es ist eine uralte Sehnsucht: nach Aufbruch in aller Herrgottsfrühe, dem ersten Zwitschern der Vögel, Tau auf den Blättern, würzigem Duft von Wald. Nach Laufen, soweit die Füße tragen. Vielleicht sogar eine unbewusste Sehnsucht nach Einfachheit, Demut und Dankbarkeit. Nach Spiritualität und Kontemplation. Nach den eigenen Wurzeln oder nach einer Auszeit, nach Heilung. Wer das Pilgern auf den zwölf Routen ausprobieren möchte, beginnt vielleicht mit einer kurzen Tour. Oder vor der Haustür:
Von Bad Tölz nach Benediktbeuren
Sandra Freudenberg und Stefan Rosenboom starten zur Zeit der Sonnenwende auf Spuren der Tölzer Leonhardi-Wallfahrt. Von der Leonhardikapelle am Kalvarienberg gehen sie entlang der Isar und schließlich die Benediktenwand hinauf. Statt sich ein Bett in der Tutzinger Hütte zu gönnen, schlagen sie ein einfaches Nachtlager zwischen Trollblumen und Latschen unter freiem Himmel und vier Gipfelkreuzen auf: „Hier, wo mich und meinen Kumpanen Berggipfel kreisrund umgeben, entsteht mir ein Ort des Glaubens, eine Gebetsstätte, ein Tempel“, beschreibt die Autorin das erhabene Gefühl des Einsseins mit der Natur. Sie begegnen Steinböcken und dem seltenen Augsburger Bär, einem vom Aussterben bedrohten Nachtfalter. Und verbinden mit dieser Route „zwei heilige Orte“ – den Tölzer Kalvarienberg und die Abtei Benediktbeuren.
Wendelstein und Birkenstein im Winter
Das keltische Fest Imbolc und Mariä Lichtmess, so die Autorin, fallen Anfang Februar fast zusammen. Vom keltischen Kultort in Standkirchen bei Weyarn, der Keltenschanze, führt ihr Pilgerweg über Schliersee und den Wendelstein nach Birkenstein. Sie verbinden beide magischen Orte mit einer persönlichen Wallfahrt – und beide Feste, das keltische und das christliche: „um die Wurzel des Glaubens besser zu verstehen, in einer Region, die meine Heimat ist“. Im Winter braucht man alpine Erfahrung – Sandra Freudenberg und Stefan Rosenboom biwakierten auf dem Wendelsteingipfel bei 30 Zentimeter Schnee. Wer den Weg zwischen Mai und Oktober geht, kann eine sonntägliche Bergmesse in Deutschlands höchstgelegener Kirche miterleben. In Birkenstein führt ein 20-minütiger Meditationsweg zum Kalvarienberg: „Er kann für suchende Pilger:innen ein Tiefenerlebnis sein. Die Energie knapp unter der Kreuzigungsgruppe ist stark.“
Wilde Wallfahrt vom Tegernsee nach Schliersee
Die Freudenreichalm mit ihrer Kapelle zwischen Tegernsee und Schliersee zu erhalten, empfindet die Familie als heilige Pflicht. Foto: Stefan Rosenboom
Auf den Spuren der Marienwallfahrt, bei der im Jahr 1747 viertausend Gläubige zur Egerner Kirche pilgerten, startet dieses Kapitel, dass mit „Erzählung von Räubern und Wundern“ überschrieben ist. Wunder geschahen so zahlreich, dass sie in den „Mirakelbüchern“ der Kirchen in Egern und Schliersee festgehalten und einmal im Jahr den Gläubigen verlesen wurden. Nach über 300 Jahren wurde mit der Säkularisation 1803 die Marienwallfahrt verboten. Im Schlepptau der Wittelsbachern pilgerten fortan in Scharen Adelige, Künstler und Sommerfrischler an den Tegernsee. Heute pilgern Jäger, Heimatverbundene und Brauchtumsfreunde auf den Spuren von Wildschütz Jennerwein und dem Brandner Kaspar über die Freudenreichkapelle vom Tegernsee zum Schliersee.
„Pilgern ist ein wenig wie Fliegen. Der Geist bekommt auf dem Weg Flügel.“
Kultur- und religionsgeschichtliche Hintergründe mischen sich mit dem Erleben und Empfinden der beiden Pilgernden, Gedanken zum Christentum, Judentum, zum Islam und Buddhismus. En passant vermitteln die Autoren – auch Stefan Rosenboom schrieb drei Kapitel – Wissenswertes, Legenden und Sagen, die sich mit den Natur- und spirituellen Erlebnissen mischen. Weitere Pilger- und Wallfahrtswege führen beispielsweise von München nach Tirol, rund um den Seealpsee im schweizerischen Appenzell oder von Innsbruck ins Trentino.
Das Ziel des Jakobsweges von Einsiedeln nach Flüeli-Ranft ist die Ranft Kapelle: Stefan Rosenboom
„Das spirituelle Erlebnis einer Pilgerwanderung ist nicht steuerbar, nicht herbeimeditierbar oder vorhersehbar“, so Sandra Freudenberg. Es entsteht beim Gehen. Wer nicht einfach nur wandern möchte, sondern sich in Ruhe, Besinnung und mit Mut zur Langsamkeit auf Jahrhunderte alten Pfaden und Bittgangswegen durch die Alpen bewegen, wird dieses Buch lieben. Und wird womöglich am Ende Dankbarkeit und Zufriedenheit beim Pilgern finden, ohne zuvor wissentlich danach gesucht zu haben. So wie Sandra Freudenberg und Stefan Rosenboom.
Buchcover. Gestaltung: Knesebeck Verlag