Immanuel Kant

Die beiden Seiten des Immanuel Kant

Der Perückenmacher von Königsberg, ein Buch um den Philosophen Immanuel Kant. Foto: MZ

Buchtipp von KulturVision

Der Begründer unserer Werteordnung Immanuel Kant hatte auch eine andere Seite. Diese legt Michael Lichtwarck-Aschaff in seinem Roman „Der Perückenmacher von Königsberg“ offen, aber ohne den toten Philosophen anzuklagen.

Eher benutzt der Autor die Sokratische Taktik: Er stellt seinen Leserinnen und Lesern fragen. Und kehrt damit zum Aufruf des Begründers der Aufklärung zurück: Bediene dich deines eigenen Verstandes.

Der Roman mit dem Untertitel „Eine schwierige Freundschaft mit Immanuel Kant“ erzählt die Geschichte einer fiktiven Person, dem hugenottischen Perückenmacher Étienne Lenné aus der Perspektive seines Nachkommen, der vom Urgroßvater spricht, obwohl der doch mehrere Generationen vorher in Königsberg lebte. Gemeinsam mit Tante Eva hat der Nachkomme dessen Unterlagen entdeckt und wertet sie für seine Erzählung aus.

Perücke behindert frische luft

In der Rahmenhandlung sitzt besagter Urgroßvater auf einem Stuhl und wartet auf sein Verhör, zu dem er vor die Commission des Justizministers Woellner einbestellt wurde. Von 9 bis 16 Uhr lässt man ihn warten und bangen, was man denn von ihm wolle. Sicher gehe es um den Afrikanischen Abend, zu dem jüngst sein Kunde Kant eingeladen hatte.

In der Warterei lässt Étienne Lenné die Vorkommnisse der jüngsten Zeit Revue passieren und der Lesende erfährt Einzelheiten aus dem Leben in Königsberg ebenso wie aus der Gedankenwelt des Perückenmachers. Interessanterweise ist der nämlich ein Gegner der Perücke. Diese lasse die Gedanken nicht frei atmen, lasse keine frische Luft hinein ins Hirn und hindere damit den Menschen, sich aus seiner Unmündigkeit zu befreien.

Übertragungsfehler?

Lieber ermuntert er seine Kunden, sich einen Fassonschnitt zuzulegen, um den Gedanken der Aufklärung mit seinem Friseurhandwerk praktisch umzusetzen. Aber Ehefrau Klara ist eine noch praktischere, sie muss den Haushalt führen, Kinder ernähren und so treibt sie ihren Mann an, doch Perückenkunden zu akquirieren. So wie eben Kant.

Und so kommt der Perückenmacher mit der janusköpfigen Gedankenwelt des Philosophen in Berührung, die ihren Höhepunkt in besagtem Afrikanischen Abend findet, bei dem die derzeitige Freundin Kants Frau Fritz in ein Leopardenfell gehüllt, afrikanische Speisen anbietet, wobei die Gäste auf Lederhockern sitzen müssen.

Aber auch bei Gesellschaften und Unterrichtstunden auf dem Gut der Gräfin Caroline von Kayserling werden Gedanken und Überzeugungen philosophischer Art ausgetauscht, wobei der Student Louis Gimmler ins Spiel kommt, der fleißig die Vorlesungen Kants mitschreibt. Somit bedient sich der Autor der Möglichkeit, dass eventuell so manche Sentenz ein Übertragungsfehler sein könnte.

Michael Lichtwarck-Aschoff_F.Mirko Markic
Michael Lichtwarck-Aschoff. Foto: F. Mirko Markic

Aber nicht muss, denn Michael Lichtwarck-Aschoff hat am Ende seines Romans die Vorlesung „Physische Geographie“ Immanuel Kants angefügt. Aus all dem kann sich der Lesende ein eigenes Urteil bilden, wie der Philosoph seine Gedanken zur Aufklärung mit den Menschen Europas in Zusammenhang brachte, aber Menschen nichtweißer Hautfarbe eine niedrigere Entwicklungsstufe zuschrieb. Insbesondere in Afrika, bedingt durch die Hitze, seien die Menschen „halb ausgewickelt“, undiszipliniert und unfähig zur höheren Entwicklung, die Geographie also präge den Charakter der Menschen.

Sinne reißen Verstand aus dem Dösen

Und dann, so argumentiert Kant, seien noch die Sinne, die der Verstand an die Hand nehmen müsse. Damit kommt Johanne ins Spiel, die junge, hübsche, intelligente Bauernmagd, die allen Männern, einschließlich des Perückenmachers, zu schaffen macht. Allerdings, auch das muss Kant einsehen, nur wenn die Sinne geweckt sind, reißt es den Verstand aus dem Dösen. Mit Johanne hat Michael Lichtwarck-Aschoff eine Figur erfunden, die dem Roman eine pikante Würze verleiht.

Das Buch ist eine Wissenschaftsbiografie, ähnlich demjenigen über Robert Koch, mit dem sich der Autor in „Robert Kochs Affe“ auseinandersetzt. Auch in dieser Biografie zeigt er eine dunkle Seite im Leben des berühmten Mediziners und Mikrobiologen, der Bakterien als Ursache verheerender Krankheiten entdeckte. Neben all den faktenbasiertem Wissen aber sind beide Romane lebendig und fesselnd geschrieben und regen dazu an, sich seine eigene Meinung zu bilden.

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Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob man dem Philosophen der Aufklärung und des Kategorischen Imperativs Immanuel Kant Rassismus vorwerfen darf oder nicht, „ob die Eingeborenen vor der Goldküste ein Hirn von der Größe einer verschmorten Erbse hätten“. Stimmt die Niederschrift eines Studenten mit den Aussagen Kants überein: „Die Negers sind keine Menschen.“ Muss man seine Gedanken aus dem Kontext der damaligen Zeit her interpretieren?

Michael Lichtwarck-Aschoff schreibt ganz am Ende in der Nachbemerkung, dass Immanuel Kant immer dazu gelernt habe, sich korrigiert oder begründet hat, weshalb er sich nicht korrigierte. Das gehöre zu seinen großen Leistungen.

Erster afrikanischer Philosoph

Der Roman wird eingeleitet von einem Spruch von Anton Wilhelm Amo: „Es genügt nicht, die Wahrheit zu sagen, wenn nicht auch die Ursache der Nichtwahrheit bestimmt wird.“ Dieser Amo wird im Buch als Nemo vorgestellt. Amo, geboren 1703 an der Goldküste in Westafrika, war der erste bekannte Philosoph afrikanischer Herkunft in Deutschland, der an den Universitäten Wittenberg, Halle und Jena lehrte.

Michael Lichtwarck-Aschoff: „Der Perückenmacher von Königsberg – Eine schwierige Freundschaft mit Immanuel Kant“, S.Hirzel Verlag 2024.

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